Technologie-Thriller im Reality-Check

Sechs Bücher auf dem Prüfstand In der Literatur spielen Internet, Apps und smarte Geräte immer öfter eine Schlüsselrolle. Doch sind die Autorinnen und Autoren sattelfest, wenn sie ihre Heldinnen und Helden mit Handys hantieren lassen?

Matthias Schüssler

Hoch entwickelte Technik war früher die Domäne der Science-Fiction-Autoren: Sie haben sich kluge Maschinen, schlagfertige Computer und menschenähnliche Roboter ausgedacht und für ihre Handlungen eingespannt – und manchmal reale Entwicklungen vorweggenommen: Isaac Asimov hat 1953 selbstlenkende Autos beschrieben und Frank Herbert sich 1965 für «Dune» Drohnen ausgedacht.

Als geradezu prophetisch muss Hugo Gernsback gelten. Er hat in seinem Roman «Ralph 124C 41+» im Jahr 1911 Videotelefonie, Simultanübersetzung, Solarzellen sowie Fax und Fernsehen als normale Alltagsgegenstände vorhergesehen.

Heute sind Computer allgegenwärtig. Die künstliche Intelligenz oder die virtuelle Realität sind für uns erlebbar und von der Science-Fiction in die Unterhaltungsliteratur gewandert. Ein Problem bleibt indes bestehen: Ausgeklügelte Technik garantiert noch keine Spannung – eher im Gegenteil: Verliert sich ein Autor in technischen Details, wendet sich die Leserschaft gelangweilt ab. Es sind erst die Auswirkungen auf das Leben der Menschen, die die Technik interessant machen.

Wie gut gehen zeitgenössische Autoren mit den oft gegensätzlichen Ansprüchen an die Genauigkeit bei der Technik und den Erfordernissen einer spannenden Geschichte um? Sechs Beispiele:

— Marc Elsberg: «Zero»

Inhalt: Ein skrupelloser Techkonzern spornt die Bevölkerung dazu an, mit allen technischen Mitteln persönliche Daten en masse zu sammeln, und offeriert im Gegenzug intelligente Apps, die bei der Selbstoptimierung helfen. Die meisten Leute nutzen ohne Bedenken Cyberbrillen und lassen sich von Algorithmen bewerten.

Authentizität: Die Methoden des Social-Media-Unternehmens und auch die technischen Mittel orientieren sich an den Möglichkeiten von 2014 – da ist das Buch herausgekommen. Vieles wird der Spannung wegen aber so stark überzeichnet, dass es parodistische Züge annimmt.

Verdikt: Elsberg liefert spannende Unterhaltung, beweist aber auch, dass fiktive Geschichten, die sich sehr stark an der Aktualität orientieren, oft schlecht altern: Dass Zeitgenossen alles und jedes, was sie auf der Strasse sehen, live ins Netz streamen, ist zum Glück nicht passiert.

— Matthias Kirschner und Sandra Brandstätter: «Ada & Zangemann»

Inhalt: Der skrupellose Techmagnat Zangemann übt restriktive Kontrolle über alle vernetzten Geräte aus: Er erlaubt es den Kindern nicht, mit ihren smarten Skateboards auf den Trottoirs zu fahren, und sorgt dafür, dass die WLAN-Lautsprecher keinen Krach veranstalten. Ada, eine selbstbewusste Schülerin, lässt sich das nicht gefallen: Sie bringt sich Programmieren bei und hackt die Geräte so, dass sie nicht mehr Zangemann gehorchen, sondern von den Nutzerinnen und Nutzern selbst kontrolliert werden dürfen.

Authentizität: Das Buch richtet sich an Kinder und gibt sich Mühe, die technischen Details wohl zu dosieren. Doch an deren Wahrheitsgehalt ist nicht zu rütteln: Was Ada übers Programmieren lernt, hat Hand und Fuss.

Verdikt: Matthias Kirschner ist Präsident der FSFE, einer Organisation, die sich für freie Software einsetzt. Es wundert daher nicht, dass auch die Heldin des Buchs auf digitale Selbstbestimmung pocht. Zusammen mit der Illustratorin Sandra Brandstätter ist dem Autor ein technoides Märchen mit einer zeitgemässen Moral gelungen.

— Wolf Harlander: «Systemfehler»

Inhalt: In ganz Europa treten Probleme mit Verkehrsleitsystemen bei der Bahn, im Strassenund im Flugverkehr auf. Die Lage verschärft sich, als auch in Spitälern die vernetzte Technik nicht mehr funktioniert und erst Lifte und Türen, dann auch die Geräte in den Intensivstationen den Dienst verweigern. Ein Softwareexperte, der selbst unter Verdacht gerät, an den Manipulationen beteiligt zu sein, findet heraus, dass die Systemfehler durch gezielte Angriffe auf den grossen Internetknoten in Frankfurt ausgelöst werden und zum Ziel haben, das Internet lahmzulegen.

Authentizität: Viele der Details stimmen – so gibt es in Frankfurt am Main in der Tat einen Internetknoten, der für einen gross angelegten Angriff aufs Netz in Erwägung zu ziehen wäre. Und dass Spitäler durch Schadsoftware bedroht werden können, hat 2017 der Wannacry-Wurm bewiesen. Trotzdem lässt sich das Internet nicht so einfach ausschalten. Vint Cerf, einer der Väter des Internets, hat auf die entsprechende Frage eines Untergangspropheten trocken geantwortet, das Netz werde es «schon aushalten».

Verdikt: Wie unsere Gesellschaft auf grossflächige Internetausfälle reagieren würde, ergibt ein spannendes Gedankenspiel. Doch Harlanders Geschichte krankt an der Motivation des Antagonisten: Denn weil das Netz von den Bösen genauso wie von den Guten genutzt wird, hat niemand ein Interesse, es komplett lahmzulegen.

— Thomas Meyer: «Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin»

Inhalt: Wenn man den Juden ständig unterstellt, sie würden die Weltverschwörung anstreben, dann können sie doch genau das tun. Zu diesem Zweck wird Amazons digitale Assistentin vereinnahmt und nicht ganz so subtil umprogrammiert. Sie fängt an, ihre Nutzer für die jüdische Kultur empfänglich zu machen, indem sie passende Restaurants empfiehlt, heimlich Klezmer-Stücke zu Wiedergabelisten hinzufügt und sich immer mehr wie eine jüdische Mame aufführt. Im Showdown tritt Schoschona, wie Alexa gegen Ende heisst, gegen das Internet an, das sich als Erfindung der Nazis entpuppt – respektive jener Neogermanen, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch übrig geblieben sind und sich in einer Bergfestung in den bayerischen Alpen verschanzt haben.

Authentizität: So gross, wie sie in einer Groteske sein muss.

Verdikt: Der Kernaussage von Thomas Meyer kann man nicht widersprechen: Es ist unbestreitbar, dass algorithmusgesteuerte Technik die Weltanschauung ihrer Erfinder transportiert, selbst wenn sie sich noch so neutral gibt. Doch dass niemand bei Amazon die Unterwanderung der Alexa aufgefallen ist, vermögen wir nicht so recht zu glauben.

— Stephen King: «Puls»

Inhalt: Über das Mobilfunknetz senden unbekannte Hintermänner ein Signal, das Menschen in irre Monster verwandelt: Wer das Pech hat, sich zum Zeitpunkt dieses Pulses ein Handy an den Kopf zu halten, wird zum instinkthaften, mordlüsternen Tier, das im Rudel innert Sekunden die Zivilisation auslöscht. Mit der Zeit entwickeln die Betroffenen eine Art Schwarmbewusstsein, während die Mobiltelefonverweigerer verzweifelt ums Überleben kämpfen.

Authentizität: Null. Es ist nicht plausibel, dass ein per Mobilfunk verbreiteter Impuls eine solch verheerende Wirkung entfalten könnte. Das Mobilfunknetz ist eine Metapher für die Kommunikationstechnik insgesamt, die uns Stephen Kings Meinung nach unsere Menschlichkeit raubt.

Verdikt: Wer eine faktische Auseinandersetzung mit den Segnungen und Schattenseiten von Handys und mobilem Internet erwartet hat, wird enttäuscht. Das Telefon ist ein Vorwand für King, einige seiner Lieblingsmotive wie das personifizierte Böse in Form des Raggedy Man auf die Menschheit loszulassen.

Authentizität gleich null: Szene aus der Verfilmung von Stephen Kings Roman «Puls». Foto: Imago Images

Quelle: Tages-Anzeiger, Dienstag, 8. Februar 2022

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