Was macht die chinesische App Tiktok besser als Instagram?

Börsenabsturz von Meta Facebook ist bei Jugendlichen schon lange out, nun lahmt auch die Schwesterplattform Instagram. Fünf Gründe, warum jetzt Tiktok angesagt ist.

Edith Hollenstein und Matthias Schüssler

Die Aktien von Meta haben am Donnerstag gigantische Verluste von mehr als einem Fünftel ihres Werts erlitten. Damit wurden mehr als 200 Milliarden Dollar Börsenwert vernichtet. Die Meta-Aktien liegen derzeit rund 25 Prozent im Minus. Meta-Chef Mark Zuckerberg sagt, dass das Unternehmen mit der zunehmenden Konkurrenz durch die virale Video-App Tiktok konfrontiert sei. Was kann Tiktok besser als Meta mit seinen Plattformen Facebook und Instagram?

1 Weniger Hochglanz, mehr Ehrlichkeit

Im Gegensatz zu Facebook und Instagram ist Tiktok weniger hochglanzpoliert. Auch hier gibt es kurzweilige, einfach verdauliche Inhalte. Die Posts erscheinen spontan und aus dem Alltag heraus. Während auf Instagram die Feeds von Influencern oftmals stark kuratiert, die Bilder inszeniert und bearbeitet sind, findet man auf Tiktok mehr Authentizität und weniger Perfektion.

«Man sieht Menschen mit unreiner Haut, Körper, die nicht dem gesellschaftlich vorgelegten Schönheitsideal entsprechen, unaufgeräumte Wohnungen im Hintergrund, vielseitige sexuelle und geschlechtliche Orientierungen, unkonventionelle Beziehungsformen, Disability und Diversity», sagt Lorella Liuzzo, Beraterin bei der Social-Media-Agentur Monami.

2 Persönliche Wesensart statt perfektes Bild

Auf Tiktok werden Menschen mehr für ihre persönliche Wesensart gefeiert und nicht primär, weil sie einem perfekten Bild entsprechen. Am meisten Follower hat die Amerikanerin Charli D’Amelio. Ihre ersten Tanzvideos lud sie im Sommer 2019 hoch und sammelte blitzschnell Millionen Follower. Momentan sind es 135 Millionen.

3 Algorithmus, der User fast nicht mehr loslässt

Das Suchtpotenzial der Video-App ist hoch. Das liegt an den authentischen, sehr persönlichen Inhalten, die unzählige Nutzerinnen und Nutzer auf der ganzen Welt teilen. Mindestens gleich wichtig ist der Tiktok-spezifische Vorschlagsalgorithmus. Als im Herbst 2021 ein geleaktes internes Dokument aufzeigte, wie dieser funktioniert, schrieb das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» von einer «Abhängigkeitsmaschine», und die «New York Times» titelte, das Dokument erkläre, wie Tiktok unsere Gedanken lese.

Tiktoks Algorithmus ist ausgezeichnet darin, die kleinen Signale der Nutzerinnen und Nutzer zu deuten: wie lange sie ein Video schauen, wo sie kommentieren, ein Like setzen oder mittels Wischgeste vorzeitig zum nächsten Video wechseln. Keine oder bloss eine untergeordnete Rolle spielen die Interessen der Freunde und Bekannten: Die App setzt primär auf die Analyse der Nutzerinteraktion.

Der Algorithmus hat eine weitere Stärke: Er sorgt dafür, dass es nie langweilig wird. Würde er immer nur mehr vom Gleichen anbieten, führte das zu einer Übersättigung. Der Algorithmus wirkt dem entgegen, indem er eine inhaltliche Streuung einführt.

4 Aufmerksamkeit um jeden Preis

Die Aufmerksamkeit der Nutzer ist das höchste Gut. Wie alle Firmen, die sich ausschliesslich über Werbeeinnahmen finanzieren, zeigt sich auch bei Tiktok: Das Ziel ist nicht, den Nutzerinnen die hochstehende Unterhaltung zu bieten, die ihnen guttut. Sie wollen die Nutzer möglichst lange bei der Stange halten – selbst dann, wenn die Leute eigentlich genug hätten.

Das wird mehr und mehr zum Problem: So hat Tiktok, das zum chinesischen Konzern Bytedance gehört, in den letzten Monaten wegen fragwürdiger viraler Challenges für zahlreiche Negativschlagzeilen gesorgt. Teenies verletzten sich, weil sie an Challenges teilnahmen und ihre Grenzen nicht kannten. In Italien erstickte gar ein zehnjähriges Mädchen bei einer «Black-out-Challenge» durch Selbststrangulation.

«Das Suchtpotenzial bei Tiktok ist hoch. Jugendliche verbringen statistisch gesehen viel mehr Zeit auf der Video-App als auf allen anderen Channels», sagt Social-Media-Expertin Liuzzo. Das könne zu Isolierung und Einsamkeit, fehlenden echten sozialen Kontakten und fehlendem Austausch führen, gibt sie zu bedenken.

Hinzu komme, dass auf Tiktok relativ rasch und unvermittelt ein Video viralgehen könne. Liuzzo sagt: «Während Viralität durch Instagram und Facebook nur noch sehr schwer erreicht wird, kann ein Video auf Tiktok über Nacht weltweit millionenfach angeschaut werden.»

Tiktok hat deshalb im Herbst des letzten Jahres eine Reihe von Funktionen angekündigt, die Nutzern helfen sollen, die mit psychischen Problemen und Suizidgedanken zu kämpfen haben.

5 Tiktok liegt bei Jugendlichen vorne

Die chinesische App verkündete Ende 2021, dass sie mittlerweile monatlich mehr als eine Milliarde Nutzerinnen und Nutzer habe. Wie viele davon leben in der Schweiz? «Darüber hinaus teilen wir leider keine Nutzerzahlen», sagt eine Tiktok-Sprecherin am Donnerstagabend auf Anfrage dieser Zeitung.

Klar ist aber: Auch in der Schweiz verliert Meta zunehmend Publikum. «Facebook interessiert die Jungen schon lange nicht mehr, und Instagram kommt unter Druck von Tiktok», sagt Daniel Zuberbühler, Geschäftsführer der Zürcher Werbeagentur Sir Mary. Seine Beobachtung spiegelt sich in den aktuellsten Nutzungszahlen. Tiktok hat bei den jüngeren Schweizerinnen und Schweizern Facebook überholt. «Während Tiktok 310’000 User zwischen 15 und 24 Jahren hat, sind es bei Facebook nur noch 260’000», heisst es im Digimonitor 2021.

Sie wurde mit Tanzvideos berühmt: Die Amerikanerin Charli D’Amelio hat mit 135 Millionen am meisten Follower auf Tiktok. Foto: GC Images

«Jugendliche verbringen viel mehr Zeit auf der Video-App als auf allen anderen Channels.»
Lorella Liuzzo Social-Media-Expertin

Quelle: Tages-Anzeiger, Samstag, 5. Februar 2022

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Thema: Wirtschaft
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