So funktioniert der geheime Tiktok-Algorithmus

Was steckt hinter dem Erfolg? Die chinesische Videoplattform schafft es wie kein anderes Medium, die Nutzerinnen und Nutzer bei der Stange zu halten – bis hin zur Sucht. Ein geleaktes Dokument zeigt, wie das gelingt.

Matthias Schüssler

— Was steckt hinter der Aufregung um den Tiktok-Algorithmus?

Die «New York Times» und «Der Spiegel» berichten über ein internes Dokument mit dem Titel «TikTok Algo 100», das detailliert beschreibt, wie der Vorschlags-Algorithmus von Tiktok funktioniert. «Der Spiegel» nennt ihn eine «Abhängigkeitsmaschine», und die «New York Times» titelt, das Dokument erkläre, wie Tiktok unsere Gedanken lese.

Der Algorithmus gilt als das Geschäftsgeheimnis der Plattform. Mit seiner Hilfe ist sie dabei, den grossen Konkurrenten das Wasser abzugraben. Das App-Analyseunternehmen App Annie hat im September Daten veröffentlicht, wonach Nutzer in den USA und Grossbritannien inzwischen mehr Zeit auf Tiktok verbringen als auf Youtube.

— Und was ist nun Tiktoks grosses Geheimnis?

Der Algorithmus ist ausgezeichnet darin, die kleinen Signale der Nutzerinnen und Nutzer zu deuten: Wie lange sie ein Video schauen, wo sie kommentieren, ein Like setzen oder mittels Wischgeste vorzeitig zum nächsten Video wechseln. Eine untergeordnete Rolle spielen gemäss diesem Dokument die Interessen der Freunde und Bekannten; die App setzt auf die Analyse der Nutzer-Interaktion.

Das bestätigt eine Untersuchung des «Wall Street Journal». Die Rechercheure hatten Hunderte von Bots eingerichtet, die sich automatisiert Videos anschauten, und verfolgt, wie sich die automatisierte Clipauswahl veränderte. Die Erkenntnis war, dass anfänglich alle Nutzer eine ähnliche Mischung an Videos erhalten, die Auswahl dann aber schnell spezifischer wird – und zwar vorwiegend anhand der Sehdauer eines Clips.

— Mehr vom selben – das ist doch nicht spektakulär?

Das stimmt. Doch Tiktok ist offenbar geschickt darin, diese Signale zu bewerten. Wenn ein Nutzer sich mehrere Videos eines bestimmten Tiktok-Stars anschaut, ergibt das eine höhere Bewertung für das Interessengebiet, als dies für die Summe der Einzelvideos der Fall wäre. Damit trägt der Algorithmus dem Umstand Rechnung, dass sich der Zuschauer durch sein gezieltes Interesse in ein Thema einfuchst.

Der Algorithmus hat eine zweite Stärke: Er ist gut darin, der Langeweile vorzubeugen. Würde er immer nur mehr vom Gleichen anbieten, führte das zu einer Übersättigung. Er wirkt dem entgegen, indem er eine inhaltliche Streuung einführt.

— Stimmt die Behauptung, dass der Algorithmus die Nutzer süchtig macht?

Der Algorithmus selbst kann das auf keinen Fall: Wenn etwas süchtig macht, dann sind es die Inhalte selbst, die er den Nutzern präsentiert. Insofern ist auch die Andeutung Unsinn, Tiktok könne «Gedanken lesen». Die «New York Times» lässt den Informatikprofessor Julian McAuley zu Wort kommen. Er sagt, dass diese Empfehlungsmaschine «sinnvoll, aber traditionell» operiert. Tiktok hat gemäss seiner Analyse einfach das Glück, auf eine fantastische Datenbasis zugreifen zu können. Tiktok stehen Daten von Millionen von Nutzern und Milliarden von Videoabrufen zur Verfügung. Daraus lässt sich sehr viel ableiten, auch «ohne algorithmische Magie», sagt Julian McAuley.

— Dann gibt es keine «bösen» Algorithmen?

Kritik an den Algorithmen ist nicht nur unbegründet, sondern falsch, da sie von den Verantwortlichkeiten ablenkt. Wenn wir einem Algorithmus die übersinnliche Fähigkeit zuschreiben, uns besser zu kennen als wir selbst, dann lässt das ausser Acht, dass ein solcher Vorschlagsmechanismus dem Interesse der Plattform und nicht der Nutzerinnen und Nutzer dient.

Das zeigt sich auch bei Tiktok: Das Ziel ist nicht, den Nutzerinnen und Nutzern die bestmögliche Unterhaltung zu bieten, sondern sie möglichst lange bei der Stange zu halten – selbst dann, wenn sie eigentlich genug hätten. Damit stellen die Unternehmen den Profit über das Wohl der Nutzer – und das ist das eigentliche Problem.

— Wäre es sinnvoll, wenn Algorithmen transparent gemacht werden müssten?

Da Algorithmen nicht nur entscheiden, was wir sehen und kaufen, sondern auch, ob wir einen Job oder einen Kredit bekommen, steht diese Forderung im Raum. Es gibt aber zwei Gegenargumente: Erstens können Algorithmen leichter ausgetrickst werden, wenn ihre Funktionsweise im Detail bekannt ist. Zweitens sind sie – wie bei der Google-Suchmaschine – das Geheimnis des Geschäftserfolgs, das Schutz verdient. Eine Prüfung durch unabhängige Experten wäre indes eine Möglichkeit.

— Dann bleibt es dabei, dass wir Nutzer den Algorithmen ausgeliefert sind?

Alles rosarot? Tiktok versteht es, die Vorlieben der Nutzerinnen und Nutzer zu bedienen. Foto: Getty Images

Der Profit kommt vor dem Wohl der Nutzerinnen und Nutzer – das ist hier das Problem.

Quelle: Tages-Anzeiger, Dienstag, 7. Dezember 2021

Rubrik und Tags:

Faksimile
211207 TA Seite 29.pdf

Die Faksimile-Dateien stehen nur bei Artikeln zur Verfügung, die vor mindestens 15 Jahren erschienen sind.

Metadaten
Thema: Aufmacher
Nr: 8659
Ausgabe:
Anzahl Subthemen: 1

Obsolete Datenfelder
Bilder:
Textlänge:
Ort:
Tabb: FALSCH