Musik in Raumklang – ein echter Fortschritt?

Stereo war gestern Statt nur von rechts und links wirkt Musik nun dreidimensional, als ob der Zuhörer mitten zwischen den Musikern sässe. Doch wird der Klang dadurch eindrücklicher – oder ist es bloss ein Trick, damit wir neue Streamingabos und Kopfhörer kaufen?

Matthias Schüssler

Was ist 3-D-Audio?

Schlagworte wie 3-D-Audio, Spatial Audio oder 360 Reality Audio, wie es bei Sony heisst, besagen allesamt das Gleiche: Sie bezeichnen ein Musikerlebnis, das über das hinausgeht, was wir von Stereoanlagen, -radios und -kopfhörern gewohnt sind. Bei diesen altbewährten Geräten ertönt die Musik von rechts und links. Mit den neuen Verfahren kommen zwei weitere Dimensionen hinzu: Der Hörer kann im Klangbild hinten und vorn sowie oben und unten unterscheiden.

Das Versprechen ist ein intensiveres Erlebnis, das so unmittelbar wirkt, als ob man als Zuhörer mitten zwischen den Musikern sässe. Das nennt sich auch Immersion – das ist der gleiche Begriff, der die Realitätsnähe von virtuellen Realitäten beschreibt.

Wie wird Raumklang technisch erzielt?

Der klassische Surround-Sound im Kino wird erzielt, indem statt zwei Kanäle wie bei Stereo deren fünf zum Einsatz kommen: zwei vorne, zwei hinten und ein Tieftöner in der Mitte. Im Vergleich dazu sind die neuen Verfahren viel ausgeklügelter: Sie verwenden Klangobjekte, von denen jedes einzelne als separate Tonspur vorliegt. Jedes Klangobjekt ist über Koordinaten im Raum verortet und kann sogar bewegt werden. Das hat zwei Vorteile: Erstens lässt sich die Wiedergabe optimal auf die Zahl und die Anordnung der Lautsprecher anpassen.

Zweitens wird auch die Position des Zuhörers miteinbezogen: Apples Airpods-Max-Kopfhörer berücksichtigt mit der Option Headtracking die Position des Kopfes: Dreht die Zuhörerin oder der Zuhörer den Kopf, bleiben die Soundobjekte an Ort und Stelle stehen: Das wirkt, als ob der Klang von aussen käme und nicht aus den Kopfhörern.

Warum kommt 3-D-Audio gerade jetzt?

Die Stereowiedergabe mit zwei Spuren wurde in den 1950er-Jahren entwickelt. Doch schon damals sah man das nicht als Ende der Entwicklung an: Es gab immer wieder Versuche, die Wiedergabe noch plastischer zu machen. Eine vergleichsweise populäre Technik war die Quadrofonie, die Ende der 1960er-Jahre aufkam und vier Tonspuren verwendet. Doch die liessen sich nur mit Schwierigkeiten auf einer Schallplatte unterbringen, und auch bei den Tonbändern brachten sie Einschränkungen mit sich, indem sie die Kapazität halbierten.

Mit dem Wechsel zu digitalen Formaten fallen derlei Probleme weg: Es entstehen zwar grössere Datenmengen, die aber nicht weiter ins Gewicht fallen. Entscheidend ist jedoch, dass inzwischen die für die Wiedergabe notwendige Rechenleistung auch in Kopfhörern zur Verfügung steht.

Braucht es Rechenleistung in den Wiedergabegeräten?

Ja, der Rechenaufwand für die Wiedergabe ist beträchtlich, da das Signal passend für die Hörsituation aufbereitet werden muss. Wenn man die Musik zum Beispiel mit Kopfhörern konsumiert, stehen wie bei der klassischen Stereofonie nur zwei Lautsprecher zur Verfügung. Damit man als Zuhörer dennoch ein Rundumerlebnis erfährt, erzeugt der Klangwandler ein binaurales Signal. Diese binaurale Technik gibt es schon länger, doch sie war bisher nur eine Nische, weil sie erstens eine besondere Aufnahmetechnik erforderte und zweitens Aufnahmen ergibt, die über normale Boxen seltsam klingen.

Um dieses Signal zu perfektionieren, treibt Sony einen beträchtlichen Aufwand: Beim Einrichten fotografiert man per App seine Ohren, woraufhin deren Form für die Klangausgabe berücksichtigt wird.

Ist die Zeit reif für Raumklang?

Es gibt mit Dolby Atmos und MPEG-H 3-D-Audio zwei Verfahren, Rundumaufnahmen digital zu codieren. Das erste ist ein proprietäres Format, das aus dem Kino- und Heimkinobereich stammt und von Apple beim hauseigenen Streamingdienst eingesetzt wird. Das zweite Format ist ein offener Standard, der vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS gefördert wird, das massgeblich an der Entwicklung von MP3 und der Internetmusikrevolution beteiligt war. Sony setzt mit seinem 360 Reality Audio auf MPEG-H 3-D-Audio.

Wie Sonys Produktname andeutet, ist auch einiges an Marketing im Spiel. Mit Raumklang können sich die Musikstreamingdienste, deren Kataloge sich kaum mehr gross unterscheiden, voneinander abheben und den Nutzern ein Hörerlebnis versprechen, das es bislang nicht gab.

Was braucht es?

Raumklangmusik lässt sich über eine Dolby-Atmos-taugliche Heimkinoanlage anhören. Der einfachste Weg eröffnet sich über die passenden Kopfhörer; am besten ein Over-Ear-Modell. Sony hat einige Kopfhörer im Angebot.

Bei Apple kommt man mit den neuen hauseigenen Kopfhörern und einem Mobiltelefon ab iPhone 7 zum Zug. Auch viele Androidtelefone sind mit Dolby Atmos ausgestattet. Sie funktionieren mit allen Kopfhörern, wobei teurere, geschlossene Modelle mit Hörmuscheln tendenziell ein besseres Erlebnis bieten.

Wo kann man Raumklangmusik hören?

Inzwischen bieten mehrere Streamingdienste Raumklangmusik an: Dolby Atmos findet sich bei Apple Music, Amazon Music Unlimited und Tidal. 360 Reality Audio wiederum lässt sich über die Streamingdienste Deezer, Tidal und den auf Konzerte spezialisierten Anbieter Nugs.net verwenden.

Bringt Raumklang einen Mehrwert?

Die Versprechen der Anbieter wecken hohe Erwartungen, die das Angebot bislang nur teilweise erfüllen kann. Das liegt daran, dass es noch wenig Musik gibt, die speziell für Raumklang produziert wurde. Es gibt bei den Streamingdiensten zwar auch alte Produktionen, die neu abgemischt werden, aber bei denen ist der Effekt oft nur subtil.

Das liegt daran, dass die meiste populäre Musik nicht für den konzentrierten Geniesser, sondern fürs Nebenbeihören produziert wird. Die Musik soll auch aus dem Küchen- oder Autoradio eindrucksvoll klingen. Das hat ab den 1980er-Jahren zu dem «Loudness War», dem «Krieg der Dezibel» geführt: Musik musste so laut als möglich wirken. Dieser Entwicklung sind die Nuancen zum Opfer gefallen, denn ein maximal dichter Soundteppich lässt keinen Platz für subtile Arrangements mit Staffelungen im Raum. Raumklang wird daher ein Phänomen für die audiophile Nische bleiben – dort aber sicher seine Freunde finden.

Ein Fall für Raumklang-Sound? In der Silent Disco wird die Musik ausschliesslich über Funkkopfhörer übertragen. Foto: Dean Hindmarch (Getty Images)

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 10. November 2021

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