Pro & Kontra

Wird jetzt alles besser?

Unsere beiden Digitalredaktoren sind sich fundamental uneins über die Aussichten in der Welt der Technik im Jahr 2021.

Nein

2020 war das Jahr, in dem ich nicht an der Technik gezweifelt habe, sondern an den Nutzern. Genauer: an den Nicht-Nutzern. Da haben Google und Apple einen gemeinsamen Effort geleistet, um uns ein Instrument zur Bekämpfung der Pandemie zu geben und unsere Smartphones in einfache Hilfsmittel beim Contact-Tracing zu verwandeln. Doch nur knapp 28 Prozent der 6,6 Millionen Handy-Besitzer in der Schweiz haben die App installiert; Mitte Dezember waren es etwa 1,83 Millionen Menschen.

Ich kann nachvollziehen, wenn jemand die App aus Datenschutzbedenken nicht installiert hat – zumindest, wenn er das nicht auch noch lauthals auf Facebook kundgetan hat. Denn mit einem einzigen Post auf dem sozialen Netzwerk gibt man mehr über sich preis als durch monatelange Swiss-Covid-App-Nutzung. Wenn die Menschheit den Datenschutz immer so hoch gewichten würde wie im Fall der Contact-Tracing-Apps, wäre es kaum dazu gekommen, dass ausgerechnet Amazon zu den grossen Gewinnern der Krise zählt – mit einem grossen Anstieg des Börsenwerts und einem Reichtumsrekord des Chefs, Jeff Bezos. Denn auch Amazon lebt davon, mehr über die Kunden zu wissen als die Konkurrenz.

Zu diesem Wissensvorsprung trägt die Smart-Home-Strategie des Konzerns bei: Amazon macht mit seinen vernetzten Lautsprechern den Kunden nicht nur das Bestellen einfach. Er erfährt auch sehr viel über die Alltagsgewohnheiten der Nutzer. Das gruseligste Produkt des Jahres ist das Fitnessarmband Halo, das Amazon Ende August vorgestellt hat.

Dieses Gadget tut, was andere seiner Art auch tun: Es misst Herzfrequenz, Schritte und die Körpertemperatur. Doch es geht noch weiter: Es will mittels künstlicher Intelligenz anhand der Stimme die gefühlsmässige Verfassung des Trägers bestimmen. Und mithilfe der zum Band gehörenden App lässt sich der Körperfettanteil ermitteln. Dazu fordert einen die App auf, per Smartphone ein Ganzkörperbild aufzunehmen. Am besten in enger Kleidung oder gleich halb nackt.

Ein solches Produkt lässt ein erstaunliches Desinteresse für die Intimsphäre der Nutzer erkennen. Es sei denn, Amazon will ausloten, wie weit die Kunden zu gehen bereit sind, wenn man ihnen einen Nutzen verspricht. Ein bisschen gruselig fand ich auch, dass Keith Alexander seit September im Verwaltungsrat von Amazon sitzt. Alexander war Chef der NSA, während Edward Snowden seine Enthüllungen über die Abhörtätigkeiten des Geheimdienstes öffentlich gemacht hat.

Die Zukunftsaussichten für uns Nutzer stehen nicht sonderlich gut. Immerhin: 2020 hat die Politik erkannt, dass die Macht der grossen Techkonzerne hinterfragt werden muss. Mark Zuckerberg und Jack Dorsey mussten im November vor dem US-Senat antreten und zur Rolle von Facebook und Twitter im Wahlkampf Auskunft geben. Im Oktober hatte der damalige US-Justizminister William Barr eine Wettbewerbsklage gegen Google angestrengt. Und schon im Juli hat das US-Abgeordnetenhaus Amazon, Google, Facebook und Apple vorgeladen, um zu prüfen, ob die Macht der Konzerne eingedämmt werden muss.

Google und Apple dominieren mit ihren App-Stores die Softwarelandschaft. Die Macht der Giganten wird noch wachsen, ausser wenn die Politik sich traut, sie nachhaltig zu beschränken – und beispielsweise deren Aufteilung anordnet. Aber bevor das passiert, werden eher 100 Prozent der Schweizer die Swiss-Covid-App installieren.

Matthias Schüssler

In einer bizarren hochtechnologisierten Zukunft spielt die britische Science-Fiction-Serie «Black Mirror» – die grössten Innovationen der Menschheit treffen auf ihre dunkelsten Instinkte. Foto: Netflix

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 30. Dezember 2020

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