Dieser EU-Plan gefährdet die Privatsphäre

Im Eilverfahren will Brüssel die sichere Verschlüsselung in Chats verbieten.

Matthias Schüssler

Es ist immer dasselbe: Nach terroristischen Anschlägen rufen Politiker nach dem Ende der abhörsicheren, verschlüsselten Kommunikation. Das war nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» der Fall, ebenso nach demjenigen in San Bernardino in Kalifornien. Und jetzt, nach dem Amoklauf in Wien, wollen die europäischen Regierungen offensichtlich Nägel mit Köpfen machen.

Der ORF berichtete gestern, der EU-Ministerrat habe innert fünf Tagen eine Resolution auf den Weg gebracht, die die Betreiber von Messengerdiensten dazu verpflichten würde, Generalschlüssel bereitzustellen, mit denen die Verschlüsselung umgangen werden kann. Sie könnte bereits im Dezember verabschiedet werden.

An dieser Vorgehensweise irritieren mehrere Dinge: erstens das Eiltempo, mit dem eine so einschneidende Massnahme ohne breite Diskussion beschlossen werden soll. Zweitens der Umstand, dass es keine Hinweise darauf gibt, dass der Anschlag in Wien durch die Überwachung von Whatsapp, Signal und Threema hätte verhindert werden können. Vielmehr schreibt der ORF, «haarsträubende Ermittlungsfehler» hätten ihn ermöglicht.

Drittens sollen offenbar nicht nur Justiz und Ermittlungsbehörden Zugang zu den Generalschlüsseln haben, sondern alle sogenannten «Competent Authorities». Das schliesst die Geheimdienste mit ein – was wiederum zur Befürchtung Anlass gibt, dass die Generalschlüssel nicht nur für gezielte Ermittlungen verwendet werden würden, sondern auch für breite Datensammlungen, die der ORF «Staubsaugermethoden» nennt.

Ja, zugegeben: Die Verschlüsselung in Whatsapp, Signal und auch im Schweizer Messenger Threema erschwert die Arbeit der Ermittler und Geheimdienste. Das Problem an Generalschlüsseln ist allerdings, dass sie in falsche Hände fallen können.

Man kann Sicherheitsmechanismen nicht nur zugunsten der «Guten» schwächen – man unterminiert sie für alle. Und es steht ausser Frage, dass Cyberkriminelle, feindliche Geheimdienste und Terroristen alles daransetzen würden, um an solche Generalschlüssel zu gelangen.

Abgesehen davon können digital versierte Kriminelle auch eigene Verschlüsselungstechniken einsetzen, für die es keinen Generalschlüssel gibt. Der Verlust an Privatsphäre betrifft nur diejenigen, die weiterhin auf Standardprodukte setzen.

Kurzsichtig und dumm – anders lässt sich dieses Unterfangen nicht nennen. Die Verschlüsselung ist ein zentraler Pfeiler in der digitalen Welt und der Gesellschaftsordnung, die die Terroristen erschüttern wollen: Verschlüsselung schützt Grundrechte – so einfach ist es.

Die EU würde gern mitlesen – etwa bei Whatsapp. Foto: Reuters

Quelle: Tages-Anzeiger, Dienstag, 10. November 2020

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