Kommentar zu Social Media

Liebes Instagram: 10 Jahre sind genug – mach Schluss

Wie konnte es so weit kommen? Innert zehn Jahren ist aus einer Plattform, die Spontaneität und Lebensfreude zelebriert hat, eine triste Dauerwerbeshow geworden, die nichts Relevantes mehr zu erzählen hat.

Matthias Schüssler

Instagram ist erfolgreich, aber nicht mehr bedeutsam.

Liebes Instagram: Du feierst . Du erwartest jetzt bestimmt eine Laudatio; eine Huldigung auf die grossen Dinge, die du in der letzten Dekade erreicht hast. Du bist das zweitwichtigste soziale Netzwerk nach Facebook. Du bist ein Geldesel; du hast deiner Besitzerin Facebook im letzten Jahr 20 Milliarden Dollar Umsatz eingebracht. Und nicht nur das: Du hast die «Influencer Economy» begründet. In der hat nicht nur jeder Mensch ein Anrecht auf seine 15 Minuten Ruhm, wie Andy Warhol es vorausgesehen hat. Nein, es darf auch jeder seine Haut zu Markte tragen – und sie dort für einen Werbedeal zum Verkauf anbieten.

Damit sind wir beim Problem: Du bist zwar unglaublich erfolgreich. Aber du bist einfach nicht mehr interessant. Um es ganz hart zu sagen: Du hast deinen Zenit überschritten. Es braucht dich nicht noch einmal zehn weitere Jahre.

Abliefern, was gefragt ist

Das meine ich nicht moralisch. Dass deinetwegen die Selbstdarstellung zu einem Volkssport geworden ist und jeder sich wie ein Supermodel aufführt: Geschenkt. Jeder, der nur ansatzweise verstanden hat, wie der Kapitalismus funktioniert, begräbt seine Illusionen ganz schnell: Wenn ein riesiges Angebot an Leuten, die gerne Influencer wären, aber nur ein beschränktes Angebot an akzeptablen Werbedeals existiert, dann geht es nicht mehr um Spass und um Selbstverwirklichung. Sondern darum, genau das abzuliefern, was die Influencer-Agentur gerade sehen will.

Wie gesagt: keine Moral. Auch nicht über die Scheinheiligkeit, die dann zum Vorschein tritt, wenn du dich doch einmal um ein Thema abseits von Konsum und Vermarktung kümmerst. Zum Beispiel in der Woche nach George Floyds Ermordung, als du versucht hast, ein Zeichen zu setzen. 28 Millionen Leute haben am #BlackoutTuesday ein schwarzes Quadrat gepostet und Unterstützung für die Black-Lives-Matter-Bewegung signalisiert. Manche haben das wohlwollend gedeutet, liebes Instagram: Deine meist sehr jungen Nutzer würden lernen, sich politisch zu engagieren und sich zum ersten Mal mit Rassismus und Diskriminierung auseinanderzusetzen.

Hast du dich nicht schäbig gefühlt?

Aber, liebes Instagram, hast du dich nicht ein bisschen schäbig gefühlt, dass deine Nutzer nichts anderes beizutragen hatten als ein schwarzes Quadrat? Du bist eine Foto-Plattform, Herrgott noch mal! Mit deiner Hilfe liesse sich das Leben der Schwarzen in den buntesten Farben dokumentieren, nicht nur Unterdrückung und der Kampf für Gleichberechtigung. Sondern auch der Alltag und der ganz normale Gang der Dinge.

Genau so hast du schliesslich angefangen: Du warst die Plattform für ungekünstelte Schnappschüsse – quietschbunte Impressionen aus dem Alltag, mit dem Smartphone eingefangen und für die Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht. Du hast das Polaroidbild auf digitalem Weg wiederauferstehen lassen und die Leute dazu animiert, den kleinen, spontanen Beobachtungen Bedeutung beizumessen.

Dafür habe ich dich heiss geliebt. Diese Belanglosigkeit hatte für mich Relevanz. Wie das allererste Bild, das bei dir veröffentlicht wurde. Es zeigt einen streunenden Hund in der Nähe eines Taco-Standes in Mexiko, den dein Mitbegründer Kevin Systrom im Juli 2010 fotografiert hat. Mein erstes Instagram-Bild zeigt auch einen Hund: Akira, der damals oft in der Redaktion anzutreffen war – das verbindet.

Doch die Zeit der Spontaneität ist auch für Hunde heute vorbei. Auch sie sind heute Influencer; man nennt sie Dogfluencer. The Dog Agency aus New York hat mehr als 100 Dogfluencer unter Vertrag und hat das Geschäft längst auch auf andere Arten ausgeweitet. Die Agentur vertritt heute auch Katzen, Schweine, Igel und Enten – jegliche Gattungen, die man mit Kleidern ausstatten, frisieren oder schminken kann.

Liebes Instagram: Der räudige mexikanische Strassenköter hat eine Geschichte und eine Botschaft. Der geschniegelte Dogfluencer im Designer-Mäntelchen ist nur noch langweilig und dekadent. Wie auch immer es so weit kommen konnte: Du hast dich selbst überflüssig gemacht.

Quelle: Newsnetz, Dienstag, 6. Oktober 2020

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