Das Ende des «Wild Wild Web»

Vom Anarchismus zur Selbstkontrolle Wie sich das Internet vom Hoffnungsträger der Demokratie zum Hassinstrument gewandelt hat – und seine Rückkehr zu den eigenen Idealen.

Matthias Schüssler

— 1995: Das anarchistische Web

Das Internet der Anfangszeit ist ein anarchistischer Ort, an dem die Nutzer sich als Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft verstehen und sich unter ständig wechselnden Identitäten unverblümt und oft unbedacht zu den unmöglichsten Themen äussern. Eine der schönsten Liebeserklärungen an dieses junge, wilde Web kommt von Edward Snowden in seiner Autobiografie «Permanent Record»: «Was dem Web 1.0 an Benutzerfreundlichkeit und gestalterischem Geschmacksempfinden gefehlt haben mag, machte es durch seine Experimentierfreude, Originalität und individuelle Kreativität mehr als wett», schreibt der berühmte Whistleblower.

Snowden erzählt, wie seine Romanze begann. Als Jugendlicher setzt er sich intensiv mit Computern auseinander und investiert sein Taschengeld in dieses Hobby. Doch wie kann er wissen, ob das Chipset, auf das er gespart hat, auch kompatibel zu seinem Motherboard ist? Er fragt in einem Forum nach und erhält umgehend eine mehrseitige Abhandlung eines PC-Experten. Keine Antwort von der Stange, sondern massgeschneidert für seine Situation.

Er, der pickelige Teenager, erlebt sich auf Augenhöhe mit den Koryphäen der Szene, die sich in den Online-Diskussionsgruppen tummeln. Und Snowden kostet diese virtuelle Gemeinschaft voll aus. Er sprayt die Hacker- und Gamer-Sites mit «hirnrissigen und chauvinistischen Kommentaren» voll, wie er später selbst zugibt. Und er erzählt, wie gross seine Sorge über all die Postings ist, als er sich für seine Geheimdienstkarriere einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen muss.

— 2000: Wikipedia verheisst die digitale Demokratisierung

«Das Wissen der Welt soll frei und gratis sein», proklamiert Jimmy Wales im September 2004 in einem Interview mit der «SonntagsZeitung». Wales begleitet den Start seiner Online-Enzyklopädie in der Schweiz: Wikipedia unter der CH-Domain geht in allen vier Landessprachen an den Start. Die rätoromanische Fassung weist zu Beginn gerade mal drei Beiträge auf.

Die Ur-Version von Wikipedia in Englisch findet sich seit 2001 im Netz. Die Idee zum freien Lexikon entsteht in jenen Diskussionsforen, in denen sich auch Edward Snowden so gerne tummelt. Und die Idee hat Sprengkraft: Wales schafft die jahrhundertealte Unterscheidung zwischen Sender und Empfänger ab. Alle dürfen am Wissen teilhaben. Und jeder kann einen Beitrag leisten.

Das löst eine ungeheure Euphorie aus: Das Mitmach-Web wird die Welt zum Besseren verändern; das steht ausser Frage. Das Nachrichtenmagazin «Facts» ist 2005 voller Begeisterung: «Das World Wide Web hat die Informationsströme demokratisiert. Immer weniger Nachrichten stammen von einer zentralen Sendestation, einer Firma oder Behörde, immer mehr vom Nachbarn – einem ganz normalen Bürger irgendwo auf dem Globus.»

Noch enthusiastischer zeigt sich der «Spiegel»: «Ein Heer von Freizeitforschern und Hobbyjournalisten, von Amateurfotografen, Nachwuchsfilmern und Feierabendmoderatoren hat das World Wide Web als Podium erobert.» Dieser Mitmach-Marktplatz sei ein wahres Welt-Theater, dessen Konsequenzen niemand abschätzen könne.

— 2005: Der Aufstieg des Mitmach-Web

Im selben Jahr erkennt ein Mann das kommerzielle Potenzial, das in dieser Graswurzel-Bewegung steckt. Mark Zuckerberg treibt noch als Student aus dem Schlafsaal seines Studentenwohnheims die Vernetzung aller Weltenbürger voran. Doch die Begegnungen zwischen Millionen sollen nicht irgendwo im freien Netz stattfinden, sondern auf seiner eigenen Plattform Facebook.

Zuckerberg setzt auf eine aggressive Wachstumsstrategie und auf diverse Tricks wie den Newsfeed oder den Like-Knopf, um die Nutzer möglichst lange im eigenen Universum zu halten. Trotzdem dauert die Euphorie an: 2010 wählt das «Time Magazine» Mark Zuckerberg zur «Person of the Year»: Gross ist die Freude, dass wir ins Facebook-Zeitalter eintreten.

2006 geht der Kampf um die Vormachtstellung im Mitmach-Web in die heisse Phase: Für sagenhafte 1,65 Milliarden Dollar übernimmt Google ein zweijähriges Start-up, das noch kaum Geld abgeworfen hat. Doch Youtube ist ein echter Magnet. Vor allem die Millennials entdecken mit der Videoplattform auch die Freude an der Selbstdarstellung.

— Ab 2010: Aus Web 2.0 wird Social Media

Im Oktober 2012 zählt Facebook erstmals mehr als eine Milliarde Nutzer. Auch dank der Smartphones und des mobilen Internets wächst das Netz der User stetig. Man spricht nun nicht mehr von «Mitmach-Web» oder Web 2.0, sondern von Social Media. Die meisten der Plattformen – der Kurznachrichtendienst Twitter, die Bilder-Pinnwand Pinterest und die Blogging-Plattform Tumblr – sind zwar in den Nullerjahren gegründet worden. Doch im neuen Jahrzehnt verzeichnen sie einen anhaltenden Boom. Am Ende des Jahrzehnts nutzen 2,77 Milliarden User die sozialen Medien.

Am Anfang des Jahrzehnts sind die neuen Plattformen Hoffnungsträger für jene, die für Meinungsfreiheit und gegen Repression antreten. Während des arabischen Frühlings verleihen Twitter und Facebook den Demonstranten in Tunesien, Ägypten, Syrien und weiteren muslimischen Ländern eine Stimme, die so laut ist, dass sich die Machthaber nicht anders zu helfen wissen, als die Internetverbindung zu kappen.

Im November 2012 verkündet Barack Obama seine Wiederwahl als US-Präsident per Twitter – und der Kurznachrichtendienst nutzt den Schwung und geht 2013 an die Börse.

— 2016: Der Traum platzt

Doch das Ende dieses Traums kommt schnell und brutal. Im Mai 2016 rechnet Sascha Lobo an der «re:publica»-Konferenz gnadenlos mit dem Internet und seinem eigenen Netzoptimismus ab. Der Optimismus verpufft aus mehreren Gründen: Da sind die Enthüllungen des einstmals so anarchistischen Internetnutzers Snowden, der 2013 die totale Überwachung durch die Geheimdienste öffentlich gemacht hat. «Die meisten Amerikaner leben ihr digitales Leben bei einem imperialen Triumvirat von Unternehmen: Google, Facebook und Amazon», sagt Snowden.

Lobo beklagt, dass nicht das freie Wissen obsiegt, sondern rechtspopulistische und rechtsradikale Fraktionen, die in ganz Europa dank sozialer Medien an die Macht kommen: «Sie benutzen diese sozialen Medien nicht klüger, aber effizienter, radikaler und auf angstmachendere Weise.»

Es gibt eine Blasenbildung, die niemand vorausgesehen hat: Die sozialen Medien versetzten viele Leute in eine isolierte Umgebung, in der sie für abweichende Meinungen kaum mehr erreichbar sind. In diesem Klima gedeihen Hass, Falschinformationen, politische Propaganda und Verschwörungstheorien.

Tech-Journalist Steven Levy formuliert es in seinem Buch über Facebook wie folgt: «Die riesige Nutzerbasis, die einst als weltveränderndes Kumbaya betrachtet wurde, ist nun ein alarmierender Beweis für übermässige Macht.» Zuckerberg ist durch die ausländischen Manipulationsversuche der US-Präsidentschaftswahlen 2016 irritiert. Trotzdem diktiert er Steven Levy eine trotzige Durchhalteparole in den Notizblock: «Ich sehe mich oder unser Unternehmen nicht als die Autorität, die definiert, was eine akzeptable Rede ist.»

— 2017: Mit dem Gesetz gegen Hass

In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts steigt und steigt der Druck. Die sozialen Medien sollen endlich etwas tun, um den Hass auf ihren Plattformen einzudämmen. Deutschland erlässt 2017 das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (kurz NetzDG), das die Netzwerke mit Bussandrohung zwingt, Hassreden zu entfernen. Netzaktivist Sascha Lobo nennt es ein «selten dämliches Gesetz». Diese Einschätzung begründet er damit, dass Twitter im Zug der Regeldurchsetzung auch den Account des Satire-Magazins «Titanic» blockiert.

Die deutsche Bundesregierung stellt im April 2020 fest, dass sich «NetzDG grundsätzlich bewährt». Doch es führt auch dazu, dass viele Hassbotschaften in Kanäle abwandern, die sich kaum kontrollieren lassen, zum Beispiel private Gruppen bei Messengern wie Telegram.

— 2020: Black Lives Matter zeigt Folgen

Anfang Juli 2020 kapitulieren die Vorkämpfer der ungefilterten Meinungsäusserung im Netz. So sieht es der Tech-Kolumnist der «New York Times», Kevin Roose. Er verkündet das Ende des «Wild Wild Web», also jenes anarchistische Web der User, wie es Snowden beschrieben hat.

Mehrere Internetkonzerne haben innerhalb von 48 Stunden Massnahmen getroffen, die noch Monate zuvor undenkbar gewesen wären: Twitch, Amazons Streamingdienst für Gamer, sperrt Trumps Account wegen «hasserfüllten Verhaltens». Youtube setzt notorische Rassisten vor die Tür. Und Twitter zeigt US-Präsident Donald Trump die Stirn und versieht seine Tweets weiterhin mit Warnhinweisen.

Auch die soziale Newsplattform Reddit vollzieht eine Kehrtwende um 180 Grad: Sie löscht wegen Hassreden Tausende Foren, auch das grösste Pro-Trump-Forum im Web. Reddit-Chef Steve Huffman lässt öffentlich von seinem Credo ab, dass er sich für die Veröffentlichung «aller Ideen, ganz gleichgültig, wie toxisch die auch sind», starkmacht.

Und auch wenn Roose das Ende des «Wild Wild Web» bedauert, so ist doch eines begrüssenswert: dass die Branche endlich versteht, dass sie an ihren eigenen Idealen gemessen wird. Es hat den jüngsten Aufruhr und die Black-Lives-Matter-Proteste gebraucht, um die Tech-Unternehmen zu mobilisieren. Eins bleibt jedoch abzuwarten: ob die Botschaft nun auch bei Facebook angekommen ist – Boykotte der Werbekunden hin oder her.

Die Facebook-Mitgründer Mark Zuckerberg (links) und Chris Hughes im Mai 2004 an der Elite-Universität Harvard in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts. Foto: Getty Images

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 8. Juli 2020

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