Plötzlich wirkt Geschichte frisch und lebensecht

Digitale Restauration Leistungsfähige Computer und ausgeklügelte Algorithmen befreien jahrzehntealte Filmaufnahmen von ihrer angestaubten Optik und zeigen die Vergangenheit so detailliert, wie wir sie noch nie gesehen haben.

Matthias Schüssler

Ein Blick zurück ins Jahr 1896: Die Filmaufnahmen zeigen Basel, wie niemand von uns es je gesehen hat. Passanten schlendern über die Alte Rheinbrücke, wie auf einer lebendigen Postkarte. Die Szene wirkt zufällig. Doch Experten wissen, dass wir es mit einer sorgfältigen Inszenierung zu tun haben: Es sind Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Kirche, die durchs Bild spazieren. Sie wollen zeigen, dass die Industriestadt am Rheinknie bereit für die Neuzeit ist.

Die Aufnahme ist eine der ersten aus der Schweiz überhaupt. Sie stammt vom Kameramann Constant Girel, und sie erfüllt alle unsere Erwartungen an ein historisches Filmdokument: Das Bild zittert, die Bewegungen sind etwas zu schnell und wirken abgehackt. Die Aufnahme ist grieselig und natürlich nur in Schwarzweiss. So wie wir es verinnerlicht haben, dass historische Filme aussehen müssen.

Doch auf Youtube findet sich eine Variante, die so überzeugend aufgefrischt worden ist, dass sie unseren antrainierten Sehgewohnheiten zuwiderläuft: Sie wirkt nicht wie ein angestaubtes Zeitdokument, sondern wie ein moderner Historienfilm mit einem eigenwilligen Farblook – aber lebensecht genug, dass man sich des Gedankenspiels nicht erwehren kann, wie es wäre, selbst über die alte Rheinbrücke zu schlendern.

Kolorierung als Knacknuss

Möglich wird diese beeindruckende Verjüngung dank moderner Computerhardware und leistungsfähiger Algorithmen: Sie färben das Material ein, rechnen es auf eine moderne Auflösung hoch, beseitigen das Ruckeln. Das Resultat ist nicht perfekt – und man muss sich bewusst sein, dass eine Reihe von Informationen hinzugefügt werden, die im Original nicht vorhanden sind. Welche Farben zum Beispiel Kleidungsstücke aufgewiesen haben, lässt sich aus den Grautönen nicht ableiten, sondern mehr oder minder treffsicher erraten. Und trotzdem fasziniert das Resultat.

Auch Hollywood setzt auf die unmittelbare Macht restaurierter Filmbilder: Der Regisseur Peter Jackson hat in seinem Epos «They Shall Not Grow Old» von 2019 Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg in ein modernes Kriegsdrama verwandelt. Jackson wollte das Publikum dazu bringen, sich unmittelbar mit den Soldaten zu identifizieren, die an die Front berufen wurden. «Der Stern» zitierte den Regisseur mit den Worten: «Wenn man erst mal diesen Charlie-Chaplin-Schwarzweiss-Look los ist, sieht man: Die Leute sind genauso wie heute. Das sollte einen nicht überraschen, 100 Jahre sind keine sehr lange Zeit.»

Für seine Zwecke hat Jackson das Material, das ihm das britische Imperial War Museum zur Verfügung gestellt hat, von jenen Eigenschaften befreit, die es als historisch auszeichnen: Er hat es in superscharfer 4-K-Auflösung scannen lassen. Kratzer, Staub, Laborfehler und andere Beschädigungen wurden weggerechnet und auch das grobe Filmkorn digital glattgebügelt. Sein Team hat eine 3-D-Variante erzeugt und mit umfangreichen Recherchen herausgefunden, wie die Uniformen und Schauplätze damals aussahen, um eine möglichst authentische Kolorierung zu ermöglichen.

Bei vielen Vorgängen hat Software geholfen. Doch es gab auch Lücken, die nur durch menschliche Arbeitskraft zu schliessen waren: 400 sogenannte Rotoskopie-Künstler waren im Einsatz. Bei dieser Technik werden Filmbilder abgepaust, wobei die Künstler fehlende Elemente hinzufügen.

So beispielsweise beim Vorgang, der das typische Ruckeln ausmerzt: Vor hundert Jahren war die Aufnahmegeschwindigkeit variabel und hing davon ab, wie schnell der Kameramann an der Kurbel drehte, um den Film zu transportieren. Das trug zur slapstikhaften Wirkung bei und macht es nötig, für ein modernes Seherlebnis die Zahl der Bilder zu harmonisieren: Ein Kinofilm läuft mit 24 Bildern pro Sekunde, was deutlich mehr ist als beim Originalmaterial.

Stimmen für den Stummfilm

Zur Ergänzung muss eine Software Zwischenbilder berechnen. Doch die sind längst nicht perfekt: Sie wurden von den Rotoskopie-Künstlern nachgebessert. Und damit das Kinoerlebnis komplett ist, braucht es zudem Ton: Die Stummfilme wurden mit Geräuschen versehen. Schauspieler haben Dialoge gesprochen, die einerseits auf Briefen und Tagebüchern der Soldaten basierten, andererseits auf tatsächlichen Aussagen, die Lippenleser in den Stummfilmaufnahmen erkennen konnten.

Den Realitätsgrad, den Peter Jackson mit seinem Film angestrebt hat, setzt eine riesige Menge Handarbeit voraus. Doch die Modernisierung von Kurzsequenzen ist mittlerweile zu einer Art Volkssport geworden. Er wird auf Youtube praktiziert, wo Zeitdokumente wie der Film aus Basel ein Millionenpublikum erreichen: Sie werden technisch aufgebessert, teils auch eingefärbt und mit Umgebungsgeräuschen unterlegt.

Einer dieser Retro-Youtuber ist Denis Shiryaev. Der polnische Videoexperte zeigt in seinem Kanal historische Aufnahmen aus Moskau, New York oder Amsterdam, kurz vor und nach der vorletzten Jahrhundertwende. Einer seiner viralen Hits hat fast vier Millionen Klicks erreicht.

Die Aufnahme stammt von 1895 und von den legendären Brüdern Lumière, die Fotoplatten im industriellen Massstab produzierten, aber mutmasslich auch die Ersten waren, die in Paris die ersten Filme für ein grösseres Publikum vorführten. Der Film zeigt, wie ein Zug im Bahnhof in La Ciotat in Südfrankreich einfährt und die Passagiere einund aussteigen.

Shiryaev wehrt sich dagegen, dass er eine Art Verjüngungskünstler sei. In einem Kommentar schreibt er, in manchen Medienberichten habe man behauptet, er habe etwas Einzigartiges geleistet. «Das ist unfair; jeder kann den Prozess wiederholen, mit den Algorithmen, die öffentlich zugänglich sind.»

Trotzdem:Die Technik ist beeindruckend. Sie basiert auf einem neuronalen Netz, das mit riesigem Rechenaufwand Details auf eine Weise ergänzt, dass sie selbst ein Jahrhundert zu überbrücken vermögen.

Die erwähnten Videos sind im Beitrag auf der Website dieser Zeitung zu finden.

1896: So präsentierten sich die Aufnahmen von der alten Basler Rheinbrücke im Original. Fotos:Screenshot TA

Bearbeitete Aufnahmen auf Youtube machen aus den Bildern einen modernen Historienfilm.

Mit künstlicher Intelligenz alte Filme und Fotos auffrischen

Gigapixel AI (100 Dollar) ist eines der Softwareprogramme zur Restaurierung von Filmen und Fotos. Sie erhöht die Zahl der Bildpunkte und damit die Schärfe des Bildes: Ein künstliches neuronales Netz erkennt Strukturen und ergänzt auf stimmige Weise Details. Das erlaubt eine Vergrösserung von bis zu 600 Prozent.

Weitere Werkzeuge des texanischen Entwicklers Topaz Labs arbeiten ebenfalls mit künstlicher Intelligenz: Sie entfernen Störungen wie Bildrauschen, schärfen Aufnahmen nach und peppen Farben auf.

Video Enhance AI (200 Dollar) erhöht die Auflösung bei Videos und sorgt dafür, dass alte Heimvideos selbst auf 4k-TVs gut aussehen. Beide Programme stellen indes hohe Anforderungen an die Hardware. (schü)

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 17. Juni 2020

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