Digitale Restauration

Und plötzlich wirkt die Vergangenheit frisch und lebensecht

Leistungsfähige Computer und ausgeklügelte Algorithmen befreien jahrzehntealte Filmaufnahmen von ihrer angestaubten Optik und zeigen die Vergangenheit so detailliert, wie wir sie noch nie gesehen haben.

Matthias Schüssler

Was die digitale Auffrischung aus einer der ältesten Filmaufnahmen der Schweiz herausholt: Nicht gerade heutiges Qualitätsniveau, aber viel besser, als wir es von mehr als hundert Jahre alten Zeitdokumenten gewohnt sind.
Screenshot: schü.

Ein Blick zurück um 124 Jahre: Die Filmaufnahmen zeigen Basel, wie niemand von uns es je gesehen hat. Passanten schlendern über die Alte Rheinbrücke, wie auf einer lebendigen Postkarte. Die Szene wirkt zufällig. Doch eine interdisziplinäre Analyse dieser 50 Sekunden zwischen Belle Epoque und Moderne ergibt, dass wir es mit einer sorgfältigen Inszenierung zu tun haben: Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Kirche spazieren über die Brücke und durchs Bild. Sie wollen zeigen, dass die Industriestadt am Rheinknie bereit für die Neuzeit ist.

Die Aufnahme ist eine der ersten aus der Schweiz überhaupt. Sie stammt vom Kameramann Constant Girel, und sie erfüllt alle unsere Erwartungen an ein historisches Filmdokument: Das Bild zittert, die Bewegungen sind etwas zu schnell und wirken abgehackt. Die Aufnahme ist grieselig, erscheint mit harten Kontrasten und natürlich nur in Schwarzweiss. So wie wir alle es verinnerlicht haben, dass historische Filme aussehen müssen. Diese Anmutung vergewissert uns, dass viele Jahrzehnte zwischen uns und den abgebildeten Ereignissen liegen.

Flashback in Farbe

Doch auf Youtube findet sich eine Variante, die so überzeugend aufgefrischt worden ist, dass sie unseren antrainierten Sehgewohnheiten zuwiderläuft: Sie wirkt nicht wie ein angestaubtes Zeitdokument, sondern eher wie ein moderner Historienfilm mit einem etwas eigenwilligen Farblook – aber lebensecht genug, dass man sich als Zuschauer nicht des Gedankenspiels erwehren kann, wie es wäre, selbst über die alte Rheinbrücke zu schlendern.

Basel um 1896: Digital aufgefrischt wirkt diese Aufnahme nicht mehr historisch, sondern erstaunlich lebensecht.
Quelle: Nihad Nasupovic (Youtube)

Möglich wird diese beeindruckende Verjüngung dank moderner Computerhardware und leistungsfähiger Algorithmen: Sie färben das Material ein, rechnen es auf eine moderne Auflösung hoch, erfinden zusätzliche Zwischenbilder, damit die Bewegungen nicht mehr ruckeln, sondern flüssiger werden. Das Resultat ist nicht perfekt – und man muss sich bewusst sein, dass eine Reihe von Informationen hinzugefügt werden, die im Original nicht vorhanden sind. Welche Farben zum Beispiel Kleidungsstücke aufgewiesen haben, lässt sich aus den Grautönen nicht ableiten. Die Einfärbung alter Schwarzweissbilder ist ein spekulativer Prozess. Wird er schlecht gemacht, entstehen unhaltbare Verfälschungen. Und trotzdem fasziniert das Resultat.

Den Charlie-Chaplin-Look beseitigen

Nicht nur Kurzfilme, sondern auch Hollywood-Spielfilme setzen auf die unmittelbare Macht restaurierter Filmbilder: Peter Jackson hat in seinem 2019er-Epos «They Shall Not Grow Old» Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg in ein modernes Kriegsdrama verwandelt. Jackson wollte das Publikum dazu bringen, sich unmittelbar mit den Soldaten zu identifizieren, die an die Front berufen wurden. «Der Stern» zitierte den Regisseur mit den Worten: «Wenn man erst mal diesen Charlie-Chaplin-Schwarzweiss-Look los ist, sieht man: Die Leute sind genauso wie heute. Das sollte einen nicht überraschen, 100 Jahre sind keine sehr lange Zeit.»

Für diesen Zweck hat Jackson das Material, das ihm das Imperial War Museum zur Verfügung gestellt hat, von jenen Eigenschaften befreit, die es als historisch auszeichnen: Er hat es in superscharfer 4-K-Auflösung scannen lassen. Kratzer, Staub, Laborfehler und andere Beschädigungen wurden weggerechnet und auch das grobe Filmkorn digital glattgebügelt. Sein Team hat eine 3-D-Variante erzeugt und mit umfangreichen Recherchen herausgefunden, wie die Uniformen und Schauplätze damals aussahen, um eine möglichst authentische Kolorierung zu ermöglichen.

«They Shall Not Grow Old»: Bei dieser Restaurierung hat der Computer zwar geholfen, doch Kinoformat erlangten die Aufnahmen nur mit sehr viel Handarbeit.
Quelle: Youtube

Bei vielen Restaurierungsvorgängen hat Software geholfen. Doch es gab auch grosse Lücken, die nur durch menschliche Arbeitskraft zu schliessen waren: 400 Rotoskopie-Künstler waren im Einsatz. Bei dieser Technik werden Filmbilder abgepaust, wobei die Künstler fehlende Elemente hinzufügen.

Beispielsweise beim Vorgang, der das typische Ruckeln ausmerzt: Vor hundert Jahren war die Aufnahmegeschwindigkeit variabel und hing davon ab, wie schnell der Kameramann an der Kurbel gedreht und den Film transportiert hat. Das trägt zur slapstikhaften Wirkung alter Filme bei, und macht es nötig, für ein modernes Seherlebnis die Zahl der Bilder zu harmonisieren: Ein Kinofilm läuft mit 24 Bildern pro Sekunde, was deutlich mehr ist als beim Originalmaterial.

Stimmen für den Stummfilm

Zur Ergänzung muss eine Software Zwischenbilder berechnen. Doch die sind längst nicht perfekt: Sie wurden von den Rotoskopie-Künstlern nachbearbeitet, um den Realitätsgrad zu erhöhen. Und damit das Kinoerlebnis komplett ist, braucht es Ton: Die Stummfilme wurden mit Geräuschen versehen. Schauspieler haben Dialoge gesprochen, die einerseits auf Briefen und Tagebüchern der Soldaten basierten, andererseits auf tatsächlichen Aussagen, die Lippenleser in den Stummfilmaufnahmen erkennen konnten.

Den Realitätsgrad, den Peter Jackson mit seinem Film angestrebt hat, setzt eine riesige Menge Handarbeit voraus. Doch die Modernisierung von Kurzsequenzen ist so eine Art Volkssport geworden. Er wird auf Youtube praktiziert, wo Zeitdokumente wie der Film über die Alte Rheinbrücke ein Millionenpublikum erreichen: Sie werden technisch aufgebessert, teils auch eingefärbt und mit Umgebungsgeräuschen unterlegt.

Einer dieser Retro-Youtuber ist Denis Shiryaev. Der polnische Videoexperte zeigt in seinem Kanal historische Aufnahmen aus Moskau, New York oder Amsterdam, kurz vor und nach der vorletzten Jahrhundertwende. Einer seiner viralen Hits hat fast vier Millionen Klicks.

120 Jahre alte Aufnahmen, die selbst auf einem modernen Fernseher gut aussehen.
Quelle: Denis Shiryaev (Youtube)

Shiryaev wehrt sich dagegen, dass er eine Art Verjüngungskünstler sei. In einem Kommentar schreibt er, in manchen Medienberichten habe man behauptet, er habe etwas Einzigartiges geleistet. «Das ist unfair; jeder kann den Prozess wiederholen, mit den Algorithmen, die öffentlich zugänglich sind.»

Trotzdem: Die Technik ist beeindruckend. Sie basiert auf einem neuronalen Netz, das mit einem riesigen Rechenaufwand Details auf eine Weise ergänzt, dass sie selbst ein Jahrhundert zu überbrücken vermag.

Mit künstlicher Intelligenz alte Filme und Fotos auffrischen

Gigapixel AI ist eine Software, die zur Restaurierung von Filmen und Fotos zum Einsatz kommt. Im Kern ist sie dazu da, die Auflösung zu erhöhen, sprich: Die Zahl der Bildpunkte zu erhöhen. Techniken dafür gibt es längst, doch typischerweise bleibt das Bild trotz mehr Pixeln ungefähr gleich unscharf. Gigapixel AI hingegen setzt auf ein künstliches neuronales Netz, das Strukturen erkennt und auf stimmige Weise Details ergänzt. Das erlaubt eine Vergrösserung von bis zu 600 Prozent.

Auch weitere Werkzeuge des texanischen Entwicklers Topaz Labs arbeiten mit künstlicher Intelligenz: Sie entfernen Störungen wie Bildrauschen, schärfen Aufnahmen nach und peppen Farben auf. Das Produkt Video Enhance AI erhöht die Auflösung bei Videos und sorgt dafür, dass alte Heimvideos auch auf einem 4-K-Fernseher gut aussehen. Doch sowohl Hardwareanforderungen als auch der Preis der Software bewegen sich auf Profi-Niveau: 200 US-Dollar kostet Video Enhance AI, Gigapixel AI 100 Dollar.

Übrigens: Moderne Fernseher führen bei niedrig aufgelösten Filmen automatisch ein Upscaling durch. Das ist aber längst nicht so eindrücklich wie das, was künstliche Intelligenz bewirkt. (schü.)

In diesem Video ist anhand von Beispielen zu sehen, wie die Software bei niedrig aufgelösten Bildern Details dazurechnet.
Topaz Labs/Youtube

Quelle: Newsnetz, Dienstag, 16. Juni 2020

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