Der Streaming-Primus bangt um die Zukunft

Videodienste Netflix hat in den letzten sechs Jahren die Sehgewohnheiten verändert. Doch jetzt ist der Vorreiter selbst unter Druck: Der Konkurrenzkampf ist hart. Und mit Disney+ tritt nach Apple TV+ nun noch ein neuer, potenter Rivale auf den Plan.

Matthias Schüssler

Seit sechs Jahren gibt es Netflix in der Schweiz – und in dieser Zeit hat der ehemalige DVD-Verleiher einiges bewegt. Das Wort «netflixen» für den Konsum von gestreamten Videos hat es bis heute zwar noch nicht in den Duden geschafft. Doch die traditionellen Programmveranstalter kriegen den verschärften Wettbewerb zu spüren.

In Deutschland hat im September eine Studie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ergeben, dass nur noch knapp die Hälfte der Zeit vor dem Bildschirm für klassisches Fernsehen genutzt wird. Den Rest verbringen die Zuschauer mit Abrufinhalten aus dem Netz. Netflix hat bei dieser Untersuchung einen Anteil von 10,3 Prozent – mehr als ein einzelner linearer Fernsehsender.

Hierzulande hat das herkömmliche TV mutmasslich noch einen besseren Stand, denn die Schweizer gelten im internationalen Vergleich als Streamingmuffel. Doch auch die SRG verlässt sich nicht darauf, dass das so bleiben wird. Der Generaldirektor Gilles Marchand hat seit zweieinhalb Jahren ein Netflix-Abo, wie er der Lausanner Zeitschrift «Culture Enjeu» verriet. Marchand verwendet es zur eigenen Unterhaltung, aber auch zur Konkurrenzbeobachtung.

Netflix à la SRG

Die Erkenntnis ist klar, dass die Programmveranstalter auf die veränderten Sehgewohnheiten eingehen müssen. Im Herbst 2020 will die SRG mit einer eigenen Streamingplattform an den Start gehen. Auf der soll es ein Angebot geben, das nach Themen und nicht nach Sprachen sortiert ist und bei dem sich die Benutzer wie bei Netflix à la carte bedienen. Und auch hier soll ein Algorithmus dem Zuschauer die Auswahl erleichtern.

Gleichzeitig will die Eidgenössische Medienkommission die Streamingplattformen regulieren. Die sollen sich an die gleichen Regeln wie die TV-Sender halten müssen. Sie wären also an Jugendschutzregeln gebunden und müssten Vorgaben zu europäischen Inhalten berücksichtigen.

Streaming hat sich etabliert, was für Netflix aber kein Grund sein darf, sich auf den Lorbeeren auszuruhen. Im Gegenteil: Der Streamingdienst erhält immer neue Konkurrenz. Seit dem 1. November 2019 gibt es Apple TV+ auch hierzulande, und zwar zum Discountpreis: Für das monatliche Abo zahlen Schweizer 6 Franken. Käufer eines neuen Apple-Geräts (u.a. iPhone, iPad, Mac, oder Apple-TV-Box) erhalten den Dienst für ein Jahr gratis. Bei Netflix kostet der Zugang mindestens 11.90 Franken. Wer Filme in bester Auflösung (4K bzw. UHD) sehen will, braucht das teuerste Abo für 21.90 Franken im Monat.

Am 24. März 2020 drängt zudem ein weiterer Streaminganbieter auf den Schweizer Markt: Disney+ stammt von der Walt Disney Company, die auf einem riesigen Fundus an Spielfilmen, Dokumentationen, Serien und Kurzfilmen sitzt. Auch Disney ist im Vergleich günstig: Man bezahlt 9.90 Franken pro Monat oder 99 Franken im Jahr und erhält ohne Aufpreis 4K-Auflösung. Bis vier Geräte dürfen parallel streamen, und es ist möglich, Inhalte auf bis zu zehn Geräte herunterzuladen und ohne zeitliche Begrenzung aufzubewahren.

Baby Yoda als Geheimwaffe

Wie viele Inhalte abrufbereit sein werden, ist noch nicht bekannt. In den USA waren es beim Start um die 500 Filme und insgesamt 7500 Serienepisoden. Das ist weniger als bei Netflix – doch wichtiger als die Grösse des Katalogs sind die Zugpferde. Zu denen gehört bei Disney die Serie «The Mandalorian» aus dem «Star Wars»-Universum, welche die Fans vor allem mit einer Figur verzückt: Baby Yoda, dem Jedi-Grossmeister, im Säuglingsalter. Weiter gibt es eine Neuadaption von «High School Musical», der Dokumentarserie «The World According to Jeff Goldblum» und «eine zeitlose Neuverfilmung» des Animationsklassikers «Susi und Strolch» von 1955.

Die Streamingdienste setzen beim Konkurrenzkampf auf Eigenproduktionen. Die sogenannten Originals gibt es nirgendwo sonst. Das führt dazu, dass Nutzer mehrere Dienste abonnieren müssen, wenn sie keine angesagte Produktion verpassen wollen. Apple TV+ setzt ausschliesslich auf Eigenproduktionen. Bei Netflix gibt es auch Lizenzware zu sehen, doch um die ist inzwischen ein Gerangel entstanden. In den USA ist die Kultserie «Friends» aus den 90er-Jahren inzwischen zu Amazon Prime abgewandert. Dabei hatte Netflix gemäss «New York Times» 100 Millionen Dollar bezahlt, um die 236 schon etwas angestaubten Sitcom-Episoden wenigstens 2019 noch zeigen zu können. In Europa bleibt uns «Friends» übrigens, trotz gegenteiligen Ankündigungen, vorläufig erhalten.

«Todesurteil für Netflix»

Gemäss einer Analyse von Forbes.com besteht der Netflix-Katalog in den USA zu 37 Prozent aus Eigenproduktionen. Die überwiegende Mehrheit, 63 Prozent, sind lizenzierte Titel. Und dieser Anteil schrumpft: Mehr als 45 Filme und TV-Serien seien verschwunden, mehrheitlich solche von Disney. Und wie das «Wall Street Journal» berichtete, darf der Streamingdienst noch nicht einmal mehr Werbung auf Disneys Fernsehkanälen wie CNBC schalten: «Das ist das Todesurteil für Netflix», orakelte ein «Forbes»-Journalist. Netflix habe den Streamingkrieg verloren: «Hollywood hat Jahrzehnte damit zugebracht, die Archive mit Blockbuster zu füllen. Netflix hat erst gerade angefangen.»

Das mag etwas gar schwarzseherisch sein. Für Netflix-Chef Reed Hastings jedenfalls scheint das Ende nicht unmittelbar bevorzustehen: In einem Gespräch mit Analysten sagte er, es gebe schon jetzt so viel Konkurrenz, dass das «gut für die Konsumenten und spannend» für sein Unternehmen sei. Hastings rechnet offenbar damit, dass die Kunden akzeptieren werden, künftig zwei oder drei Abos zu benötigen.

Das Zapping bleibt uns also erhalten. Statt zwischen den TV-Kanälen zappen wir freilich künftig einfach zwischen den verschiedenen Streaminganbietern hin und her.

Disney bringt den Streamingdienst Disney+ ab Märzin die Schweiz: Eines seiner Zugpferde ist die Neuadaption von «High School Musical». Foto: PD

Tipps fürs Videostreaming

Immer mehr Anbieter – wie behält man da die Übersicht?

Eine Hilfe sind Webdienste, die die Angebote mehrerer Streamingdienste erschliessen. Nicht alle berücksichtigen die Schweizer Kataloge, doch bei Justwatch.com findet man nicht nur die Streamingdienste, sondern auch digitale Videotheken von Swisscom, Sky, Google, Apple und Microsoft.

Wie viele Abos braucht man, um auf dem Laufenden zu bleiben?

Das hängt von den Vorlieben ab. Das Gute an der Sache: Die Streamingdienste lassen sich sofort beziehungsweise auf Ende der Rechnungsperiode kündigen. So könnte man, nachdem man auf Amazon Prime Video die neue Serie «Picard» gesehen hat, kündigen und für «The Mandalorian» zu Disney+ wechseln.

Warum nicht das Abo mit Freunden oder Nachbarn teilen?

Account-Sharing ist beliebt; die Branche klagt über Millionenverluste. Es wurde in den letzten Jahren aber weitgehend toleriert. Doch nun ziehen die Dienste die Schraube an. Die Nutzung eines Accounts in mehreren Haushalten ist in den Nutzungsbedingungen untersagt. Netflix will Aboteilern mithilfe von künstlicher Intelligenz auf die Spur kommen. Dass Nutzer verklagt oder gesperrt worden sind, ist bislang jedoch nicht bekannt geworden. (schü.)

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 29. Januar 2020

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