Die Überfliegerin unter den Social-Media-Apps

Tiktok Das chinesische soziale Netzwerk setzt ganz auf Slapstick und Musikvideos und ist damit auf einem enormen Wachstumskurs. Es hat mehr als eine Milliarde Nutzer – aber auch Kritiker, die ihm Zensur bei den Themen Politik, Religion und Sexualität vorwerfen.

Matthias Schüssler

Erinnern Sie sich noch an die «Mini-Playback-Show»? Bei dieser Fernsehsendung sind Kinder in die Schuhe (und Kostüme) von Musikstars geschlüpft und haben so getan, als ob sie zu Musik ab Band singen würden. Dieses Prinzip, ins App-Zeitalter übertragen, sei das Rezept der «momentan beliebtesten App der Welt», schreibt das Portal Welt.de über Tiktok.

Bei dieser App entstehen über die Selfie-Kamera kurze Videoclips, bei denen man die Lippen synchron zu einem Musikstück bewegt. Aufgepeppt wird die Darbietung durch Effekte, die sich ebenfalls aus dem Takt der Musik ergeben. Wie das aussehen kann, hat Ueli Maurer im April vorgeführt, als er in Peking die Tiktok-Betreiberin Bytedance besuchte. So getan, als ob er singen würde, hat der Bundespräsident nicht. Aber er ist, etwas hüftsteif, zu einem fetten Elektrobeat vor- und zurückgewippt.

So albern das klingen mag: Tiktok ist nicht nur sehr beliebt, sondern auch enorm erfolgreich. Die App hat es geschafft, innert dreier Jahre mehr als eine Milliarde aktiver Nutzer pro Monat für sich zu gewinnen. Anfang Sommer wurde dieser Meilenstein erreicht. Die App platzierte sich Ende Oktoberauf Rangzwei der globalen Download-Hitparade, direkt hinter Whatsapp.

Facebook auf den Fersen

Kein anderes soziales Netzwerk ist so schnell gewachsen. Facebook hat fast neun Jahre für diesen Meilenstein gebraucht, Instagram acht. Die Muttergesellschaft Bytedance war letztes Jahr 75 Milliarden Dollar schwer und gilt als eines der wertvollsten Start-ups. Der Gründer Zhang Yiming kommt auf ein Vermögen von 16,2 Milliarden Dollar.

Die «Financial Times» hat am Wochenende diese Erfolgsgeschichte in einem langen Stück analysiert und dafür die Vokabel «albern» (mit allen Synonymen, die das Wörterbuch hergibt) überstrapaziert. Die Unernsthaftigkeit ist das offensichtliche Geheimrezept. Denn Herumblödeln ist etwas, das die Zielgruppe der App – die Jugendlichen – von Natur aus beherrscht. Je absurder ein Video, desto grösser die Erfolgsaussichten, behaupten erfolgreiche Tiktoker. Je Slapstickhafter, desto grösser die Chance auf 15 Minuten Ruhm: Wo gibt es das anderswo?

Eine Studie aus dem Vereinigten Königreich, also Grossbritannien und Nordirland, besagt, dass sich die Hälfte der 12- bis 15-Jährigen solche Videos ansieht. 87 Prozent der Tiktok-Nutzer sagen ausserdem, dass sie sich bei anderen Plattformen unwohl fühlten. Bei Instagram steige der Druck, mit den Influencern mithalten zu müssen. Bei Facebook seinerseits gibt es eine ältere Nutzerschaft und kein Entrinnen vor politischen Streitigkeiten.

Herkunftmacht misstrauisch

Viele sehen Tiktok jedoch nicht als eine harmlose Unterhaltungs-App für die junge Generation. Manche sind beunruhigt, weil die App aus China stammt. Ende September hat die britische Zeitung «The Guardian» ein Dokument zugespielt erhalten, wonach die Moderatoren der Plattform angewiesen sind, systematisch Posts zu löschen. Unerwünscht sind Beiträge mit Bezug zum Massaker auf dem Tiananmen-Platz, zur tibetischen Unabhängigkeit und zur religiösen Gruppe Falun Gong. Bei groben Verletzungen wird ein Inhalt nicht nur gelöscht, sondern auch der Nutzer gesperrt. Bei kleineren Übertretungen werden Inhalte ausgeblendet und sind nur noch für den Ersteller selbst sichtbar.

Die Regeln, nach denen das passiert, sind weit gefasst: Unerwünscht sind Themen «wie Separatismus, Konflikte zwischen ethnischen Gruppen und Sekten, Anheizen der Unabhängigkeitsbestrebungen in Nordirland, Tschetschenien, Tibet und Taiwan und Überzeichnung des Konflikts zwischen Schwarz und Weiss».

Bytedance hat «The Guardian» geantwortet, diese Vorgaben seien ausser Kraft und schon im Mai ersetzt worden. Schon damals war Kritik laut geworden. Die «Washington Post» hatte dazu geschrieben, es würden Beiträge zu den Protesten in Hongkong zensuriert. Tiktok sei daran, zu Chinas effektivster Waffe im globalen Informationskrieg zu werden, urteilte das Blatt: «Die App bringt Zensur chinesischer Machart zum Mainstream-Publikum in den USA.»

Bytedance selbst schreibt in einem Supportdokument, es würden keine Inhalte wegen chinesischer Befindlichkeiten entfernt. «Wir wurden von der chinesischen Regierung nie aufgefordert, Inhalte zu entfernen. Und wir würden in so einem Fall nicht kooperieren.» Auch die Regeln zur Homosexualität seien gestrichen worden. Es gebe keine Zensur bei LGBTQI+-Inhalten.

Hierzulande hat man ebenfalls Bedenken, vor allemwegen Mobbings. Die Stadtpolizei Winterthur hat die App seit einem halben Jahr auf dem Schirm, weil dort vermehrt Kinder beleidigt, blossgestellt und gemobbt würden. Sie wiederholt die Empfehlung, Kinder und Jugendliche sollten dazu angehalten werden, keinerlei persönliche Informationen und keine allzu freizügigen Inhalte preiszugeben.

Ob sich Tiktok als grosse Plattform etablieren wird, bleibt abzuwarten. Facebook-Chef Mark Zuckerberg ist nicht der Typ, der zusieht, wie ein junger Konkurrent seiner Plattform gefährlich wird. Das zeigte schon Snapchat: Zuckerberg hat den bei Jugendlichen beliebten Messenger erst kaufen wollen und dann, nachdem sein Angebot ausgeschlagen worden war, gnadenlos kopiert. Snapchat ist heute in der Versenkung verschwunden.

Bei Tiktok verlegt sich Zuckerberg auf die Strategie, seine Plattform als Hort der Meinungsfreiheit anzupreisen. In einer Rede im Oktober klang das so: «Während wir mit Whatsapp und seiner starken Verschlüsselung Demonstranten und Aktivisten auf der ganzen Welt schützen, werden Erwähnungen der Proteste in der chinesischen App Tiktok zensuriert – wollenwirso ein Internet?»

Facebook hat schon letztes Jahr eine ähnliche Video-App namens Lasso lanciert. Die hat bislang keinerlei Wellen geworfen. Zuckerberg wird also mehr tun müssen, als bloss auf die Meinungsfreiheit zu pochen, wenn er der albernen App aus dem Reich der Mitte ernsthaft etwas entgegensetzen will.

Albernheit als Prinzip: Je absurder ein Video, desto grösser die Erfolgsaussichten, behaupten erfolgreiche Tiktoker. Fotos: PD

Laut «Washington Post» könnte Tiktok Chinas effektivste Waffe im globalen Informationskrieg werden.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 13. November 2019

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