Damit das Handy nicht überall reinfunkt

Digitale Ablenkung Das Handy hacke unser Hirn, sagen Kritiker – sodass wir gar nicht anders können, als ständig danach zu greifen. Doch komplett ausgeliefert sind wir ihm auch wieder nicht. Mit wenigen Fingertipps kann man schon viel bewirken.

Matthias Schüssler

Ist das Smartphone das genialste Multifunktionsgerät aller Zeiten – oder ein Tyrann, der den Nutzer nach seiner Pfeife tanzen lässt? Natürlich beides: Einerseits ersetzt das technische Wunderwerk tatsächlich mehr als fünfzig Geräte, von der Kamera über den Strichcodeleser bis hin zum Wecker, Portemonnaie, Autoschlüssel und Massband. Andererseits sind die ständigen Pushmeldungen, die konstante Verlockung, sich selbst abzulenken, nicht wegzudiskutieren.

Das Smartphone sei dazu gemacht, «unsere Gehirne zu hacken», ähnlich wie ein Spielautomat: Der ehemalige Google-Produktmanager Tristan Harris hat den Vergleich in der US-Fernsehsendung «60 Minutes» angestellt: Es sei, wie den Hebel zu betätigen, um eine Belohnung zu erhalten. Statt einer Gewinner- oder Verliererkombination gibt es ein niedliches Emoji bei Whatsapp, ein Like bei Instagram oder einen neuen Follower bei Twitter. Das führe zu einer Ausschüttung von Dopamin, sagen Forscher: Wir erhalten jedes Mal einen kleinen hormonellen Kick, wenn sich das Smartphone meldet.

Das konditioniert uns sogar darauf, unser Telefon zu spüren, wenn es gar nicht in der Nähe ist. Beim Phantomvibrationssyndrom bilden sich die Betroffenen fälschlicherweise ein, sie hätten eine Benachrichtigung erhalten. Grosse Teile der Bevölkerung leiden darunter. Bei den Studienanfängern sollen es bis zu 90 Prozent sein, berichtete die BBC.

Rat vom Mönch?

Wie damit umgehen? Jamie Kreiner, eine ausserordentliche Geschichtsprofessorin an der University of Georgia, hat das Manuskript von Johannes Cassianus ausgegraben. Der Priester, Mönch und Schriftsteller habe 422 ein Manuskript verfasst, das uns ideal wappne, um mit digitalen Ablenkungen umzugehen, findet die Professorin. Die Mönche praktizieren Selbstbeschränkung, bis hin zum Zölibat. Wie die nützt, liegt natürlich auf der Hand: Wenn man sich nur auf wenige wesentliche Dinge konzentriert, dann kämpfen weniger Gedanken im Kopf um die Aufmerksamkeit.

Die Mönche haben sich gerne bewegt, um die Konzentration zu steigern – was heute dazu führt, dass uns Fitnessbänder und smarte Uhren selbsttätig auffordern, sich jede Stunde ein, zwei Minuten zu bewegen.

Ob die Mönche mit ihren Tricks sich heute gegen die Faszination des Smartphones wehren könnten, bleibt natürlich dahingestellt. Aber es gibt auch moderne Ansätze, um das Smartphone in die Schranken zu weisen. Etwas hilflos wirken die verschliessbaren Kästchen Distracta-Gone und Phonecell: Tresore mit Zeitschloss, die sich erst nach der vorgegebenen Zeit wieder öffnen und das Telefon freigeben. Das war den meisten offenbar eine zu radikale Lösung: Beide Projekte haben auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter ihr Finanzierungsziel verfehlt. Denn gegen den schnellen Blick aufs Display helfen auch einfachere Tricks. Man kann sein Telefon in die unterste Schublade legen oder auch einfach abschalten. Denn bis es wieder hochgefahren ist, hat man den Impuls auch schon wieder überwunden.

Bäume statt Facebook

Ein sympathischer Ansatz verfolgt auch die Forest-App, die es für Android und das iPhone (2 Franken) gibt. Bei dieser wählt man die Zeitdauer, während der man das Smartphone nicht benutzen möchte. In dieser Zeit wächst in der App ein virtueller Baum. Doch damit der gedeiht, darf man die App nicht verlassen. Wenn man ein paar Sekunden zu lang bei Facebook verweilt oder einen Tweet absetzt, dann verdorrt der Baum. Nutzt man die App regelmässig, wächst über die Zeit ein gesunder Wald heran – oder eben einer, der mit Baumleichen durchsetzt ist. Die Erfahrung zeigt, dass diese App wirklich die Selbstdisziplin fördert. Zum Beispiel an Sitzungen oder gesellschaftlichen Anlässen, wo der reflexartige Griff zum Telefon auch sozial verpönt ist.

Der Fachbegriff für dieses Verhalten ist «Phubbing», zusammengesetzt aus phone und snub, dem englischen Wort für brüskieren. Ein einfaches Hilfsmittel ist der Flugzeugmodus. Er stoppt die drahtlosen Verbindungen und damit auch die Benachrichtigungen. Etwas weniger radikal ist der «Nicht stören»-Modus. Er schaltet Anrufe und Mitteilungen auf stumm, doch Kontaktversuche von Kontakten, die als Favorit gekennzeichnet sind, werden durchgestellt. Auch wenn jemand sich wiederholt meldet, lässt das Telefon den Anruf durch – in der Annahme, dass es dann wirklich wichtig sein könnte.

Der «Nicht stören»-Modus wird beim iPhone in den Einstellungen konfiguriert, bei Android unter «Töne› Bitte nicht stören». Er kann so eingerichtet werden, dass er am Feierabend automatisch aktiv wird. Er lässt sich über das Kontrollzentrum auch jederzeit manuell aktivieren. Beim iPhone tippen Sie auf das Mond-Symbol, bei Android auf das Symbol mit dem vertikalen Balken. Praktisch: Durch langes Tippen auf dieses Symbol lässt sich der «Nicht stören»-Modus beim iPhone auch für eine bestimmte Dauer einschalten – oder bis man den Ort verlässt. Geht man nach dem Tête-à-Tête aus dem Lokal, aktiviert sich das Telefon von alleine wieder.

Es ist inzwischen auch recht einfach, die Mitteilungen der Apps, die Benachrichtigungen, wunschgemäss zu konfigurieren: Sowohl beim iPhone als auch bei Android muss man sich dafür nicht mehr in die Tiefen der Telefonkonfiguration begeben, sondern lediglich eine Benachrichtigung lange antippen. Das iPhone stellt in der rechten oberen Ecke der Meldung ein Menüsymbol mit drei Punkten bereit. Tippen Sie darauf, können Sie die Mitteilungen der dazugehörenden App still empfangen, also ohne Hinweis per Ton oder Vibration. Es ist auch möglich, die Benachrichtigungen der App ganz abzuschalten – denn in vielen Fällen verpasst man nichts.

Bei Android gelangt man ebenfalls über Tippen und Halten auf eine Benachrichtigung zu den Einstellungen – wie es genau geht, variiert je nach Modell.

Hilfe zur Selbstdisziplin

Apple hat beim letzten grossen Update eine Funktion eingeführt, die der Selbstdisziplin auf die Sprünge helfen soll. Die Bildschirmzeit zeigt an, welche Apps man am häufigsten benutzt hat. Man kann eine Auszeit definieren, während der nur bestimmte Apps sowie Anrufe zugelassen sind. Es ist auch möglich, Limiten einzurichten. Standardmässig gelten diese für Kategorien, also zum Beispiel für alle Spiele oder Unterhaltungs-Apps.

Das ist nicht in jedem Fall sinnvoll: Denn wenn man die Social-Media-Apps einschränkt, hält man sich zwar von Facebook fern. Aber eben auch von den Messengern, die man unter Umständen für seine Arbeit braucht. Es gibt aber eine versteckte Möglichkeit, ein Limit für eine einzelne App einzustellen. Dazu tippen Sie die Übersicht mit der Zeitangabe an und gehen in der Liste «Meistverwendet» dann zu der entsprechenden App. In der Detailansicht gibt es nun den Befehl «Limit hinzufügen», über den Sie eine Begrenzung für eine App oder sogar eine Website einrichten.

Nicht überall ist das Smartphone gefragt. Darum gibt es diverse Möglichkeiten, es für kurze oder lange Zeit ruhig zu stellen. Foto: Getty Images

Apple führte per Update die Funktion Bildschirmzeit ein, die der Selbstdisziplin auf die Sprünge helfen soll.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 8. Mai 2019

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