Nokias Kamerawunder ist noch nicht ganz ausgereift

Das Nokia 9 Pureview macht Fotos mit sechs Bildsensoren. Doch die Algorithmen, die daraus perfekte Bilder zaubern sollten, sind der Aufgabe nicht gewachsen.

Matthias Schüssler

2016 kamen die Doppelkameras, 2018 dann die Dreifachkameras. Man braucht nun kein Diplom in Zukunftsforschung, um einen Trend zu erkennen und zu erahnen, dass die Hersteller dieses Forschungsprinzip weiter vorantreiben werden. Und tatsächlich: Das Nokia 9 Pureview hat auf der Rückseite nicht nur eine Linse, sondern eine Art Objektivblüte: fünf Sensoren, ein LED-Blitz und ein ToF-Sensor, der den Abstand eines jeden Bildpunkts zum Objektiv ermittelt.

Dieses Arsenal an Sensoren verwendet das Smartphone, um die Bildqualität zu erhöhen und Effekte zu erzielen, die mit einer herkömmlichen Kamera nicht möglich wären. Dazu werden Bilder der einzelnen Kameras verrechnet. Es ist sogar möglich, dass jede Kamera mehrfach auslöst, um mehr Material für algorithmischen Hokuspokus herbeizuschaffen.

Fünf Sensoren für ein Foto-Halleluja

In der App entstehen so bei schlechten Lichtverhältnissen trotzdem anständig belichtete Aufnahmen. Die Dynamik, also die Spannweite zwischen den hellsten und den dunkelsten Bildbereichen, lässt sich vergrössern und die Tiefenschärfe erhöhen. Es ist auch möglich, die Tiefenschärfe nachträglich zu verändern und den Fokuspunkt wunschgemäss zu setzen. Schliesslich können auch mehrere Aufnahmen kombiniert werden, um die Auflösung künstlich zu erhöhen.

Das klingt spannend und weckt Erwartungen. Doch auf den ersten Blick macht das Nokia 9 Fotos in ordentlicher, aber nicht überragender Qualität. Was gefällt, sind die feinen Nuancen, die zum Beispiel bei Porträts auf der Haut zu sehen sind, und die kontrastreiche Darstellung. Für meinen Geschmack sind die Aufnahmen zu stark geschärft und übertrieben bunt. Manchmal ist die Farbgebung schlicht daneben: Etwa dann, wenn im Himmel eine Wolke mit einem rosaroten Rand ausfranselt, den es in Wirklichkeit garantiert nicht gab.

Schwarzweiss wie früher

Wer das nicht mag, der schaltet die Kamera-App auf Schwarzweiss um. Dieser monochrome Modus überzeugt. Er rechnet nicht einfach die Farben weg, wie das normalerweise der Fall ist: Drei der fünf Bildsensoren erfassen das Bild in Schwarzweiss, die anderen beiden sind für die Farbe zuständig. Das erklärt die guten Kontraste bei den Fotos in Farbe. Und im monochromen Modus lässt es einen an die Zeit zurückdenken, wo man analog mit einem Schwarzweissfilm fotografiert hat.

Die Konfiguration mit fünf Kameras hat einige unerwartete Nebenwirkungen. Nach der Aufnahme sieht man erst eine grobe Voransicht anhand des Live-Bildes am Display. Nach einer längeren Verarbeitungszeit, die zehn oder auch zwanzig Sekunden dauern kann, erscheint das finale Resultat mit optimierten Kontrasten, Farben und in höherer Auflösung.

Das definitive Bild unterscheidet sich mitunter deutlich von der ersten Voransicht. Bei Objekten in schneller Bewegung verändert sich die Position des Sujets unter Umständen deutlich. Wenn man beim Fotografieren selbst in Bewegung ist, bekommt man womöglich sogar ein gänzlich anderes Foto als jenes, das man eigentlich gemacht hat. Wenn man sehr nahe herangeht, kann sich der Bildausschnitt markant verschieben, weil das fertige Foto von einem anderen Sensor geliefert wurde als die Live-Vorschau am Display.

Die App ist der Sache nur halb gewachsen

Das ist natürlich nicht im Sinn des Fotografen. In so einem Fall wäre eine Eingriffsmöglichkeit sinnvoll: Man würde gerne das Ausgangsmaterial inspizieren und selbst die Aufnahmen auswählen, die fürs fertige Bild herangezogen werden. Doch das ist in der Foto-App nicht möglich – und die ist den Möglichkeiten generell nur so halb gewachsen. Die Bearbeitung der Tiefenschärfe ist bei den iPhones mit Dualkamera deutlich eleganter gelöst, und generell wirkt Apples Foto-App agiler und reaktionsfreudiger.

Fazit: Dem Inhaber der Nokia-Marke, HMD Global, ist ein interessanter Wurf gelungen. Es ist aber klar, dass diese Kamera-Phalanx noch in den Kinderschuhen steckt. Aufseiten der Software gibt es ein riesiges Verbesserungspotenzial: Die Verarbeitung muss schneller werden und die App dem Nutzer mehr Einflussmöglichkeiten einräumen. Und wahrscheinlich lässt sich auch noch mehr aus dem Rohmaterial herausholen. Zum Beispiel ist die Leistung bei schlechten Lichtverhältnissen (Low Light) sicher noch verbesserungsfähig.

Die Nutzung hinterlässt Spuren

Abgesehen davon ist das Nokia 9 Pureview ein Smartphone, das mit seinem hellen und überaus scharfen Display überzeugt (6 Zoll mit 1440 auf 2880 Pixel). Die biometrischen Schutzfunktionen arbeiteten bei unserem, von Digitec zur Verfügung gestellten Testgerät einwandfrei; sowohl über den Fingerabdrucksensor im Display als auch via Gesichtserkennung ist eine schnelle und meist zuverlässige Identifizierung möglich. Die glänzende Hinterseite ist hübsch, allerdings hinterlässt schon die leichteste Berührung unansehnliche Fingerabdrücke.

Zu den Pluspunkten des Geräts gehört, dass HMD Global mit dem Telefon Android One liefert: Das ist eine unveränderte Version von Googles Betriebssystem Android Pie, die keinerlei herstellerspezifische Anpassungen aufweist und Updates schnell und für mindestens drei Jahre bereitstellt. Kritikpunkte sind die nicht ganz topaktuelle Hardwareausstattung mit dem Snapdragon-845-Prozessor von Qualcomm und die eher bescheidene Akkulaufzeit. Geladen wird das Telefon via USB-C, auch drahtloses Laden ist möglich. Weiterhin bemerkenswert: Es gibt zwei SIM-Karten-Slots.

Das Nokia 9 Pureview

Nokia neues Smartphone will bei der Fotografie neue Massstäbe setzen. Dazu setzt es fünf Kameras und einen Tiefensensor ein.

Nokias Objektivblüte. Fünf Linsen, ein Blitz und ein Tiefensensor: Das ist die Nokias Foto-Phalanx.

Licht und Schatten in der Balance. Grosse Helligkeitsunterschiede werden ausgeglichen, indem unterschiedlich belichtete Aufnahmen kombiniert werden.

Farbstichig. Die Wolke am linken Bildrand war definitiv nicht rosa – auch wenn dieses Bild das suggeriert. Allerdings scheint das nur am Handybildschirm so. Am Computer wirkt es neutraler.

Künstliche Unschärfe. Das Telefon ermittelt auch Tiefeninformationen und erlaubt es so, Hinter- und/oder Vordergründe unscharf zu rechnen und den Schärfepunkt jederzeit zu verändern.

Detailreich. Auch wenn man nahe herangeht, entstehen nuancierte Aufnahmen. Manchmal sind sie etwas zu stark geschärft.

Echtes Schwarzweiss. Drei von den fünf Bildsensoren erfassen monochrome Bilder. Das macht eindrückliche Kontraste möglich und macht Lust zum Fotografieren in Schwarzweiss.

Quelle: Newsnetz, Freitag, 12. April 2019

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