Seit 1990 haben Microsoft und Apple das Rad nicht neu erfunden

Fortschritt ist eine ziemlich oberflächliche Sache, wie eine neu aufgelegte Uralt-Software beweist.

Eine Einschätzung von Matthias Schüssler

Der Windows-Dateimanager ist zurück: jenes Programm, das im Mai 1990 mit Windows 3.0 eingeführt worden ist. Microsoft hat es mit einer Open-Source-Lizenz ausgestattet und Anfang Woche auf der Softwareplattform Github zum Download bereitgestellt (zu finden unter bit.ly/fileman10). Dank der hingebungsvollen Pflege eines Microsoft-Mitarbeiters namens Craig Wittenberg läuft das 28-jährige Relikt auch auf Windows 10 einwandfrei.

Bei denen, die damals schon mit Personal Computer zu tun hatten, mag das sentimentale Gefühle wecken: Fileman, wie der Dateimanager in englischer Kurzform hiess, brachte einen Luxus in die PC-Welt, der bislang den Mac-Anwendern vorbehalten war. Mit ihm war es endlich möglich, Dateien per Maus zu managen. Vorher musste man kryptische Kommandos eintippen, um Dateien aufzulisten, zu kopieren, zu verschieben oder umzubenennen.

Bei Leuten, die Röhrenmonitore und Floppy Disks nur vom Hörensagen oder gar nicht kennen, weckt Fileman wahrscheinlich Unverständnis. Oder Freude über die Gnade der späten Geburt. Denn aus heutiger Sicht wirkt das archaische Programm mit seinen winzigen Bedienknöpfchen, den ellenlangen Menüs und der schmucklosen Darstellung der Dateilisten hässlich und unpraktisch.

Doch trotz der antiken Optik erledigt Fileman seine Aufgabe auch heute speditiv und ressourcenschonend: ein eindrücklicher Beweis, dass sich in den letzten Jahrzehnten am Umgang mit den gespeicherten Inhalten nichts Grundlegendes verändert hat. Digitale Inhalte werden wie in den Anfängen der Computerei nach Dateien organisiert und hierarchisch in Ordnern und Unterordnern abgelegt. Der grösste Entwicklungssprung hat stattgefunden, als die Lochkarten abgelöst worden sind. Die Karten wurden in einer vorgegebenen Reihenfolge eingelesen. Bei Trommelund Festplattenspeicher stehen alle Dateien quasi parallel im Zugriff.

Versuche, das Rad neu zu erfinden, gab es durchaus. Microsoft wollte mit WinFS das Betriebssystem mit einer Datenbank ausstatten. Statt nur über Dateinamen hätte man seine digitalen Informationen über vielerlei Metadaten verwenden können: so wie bei einer Musikmediathek, die man nach Künstler, Album, nach Genre oder Veröffentlichungsdatum erschliessen kann. Allerdings ist daraus nichts geworden. Dem ambitionierten Projekt, das mit an der jahrelangen Verspätung von Windows Vista schuld war, wurde 2006 der «Gnadentod gewährt», wie es «The Guardian» ausdrückte. Der Grund war mangelnde Begeisterung. Niemand konnte WinFS etwas abgewinnen.

Verstecken statt neu erfinden

Apple seinerseits hat versucht, beim iPhone und beim iPad das Dateisystem vor den Augen der Nutzer zu verstecken. Die Daten sollten über die Apps zugänglich sein, ohne dass sich der Benutzer darüber Gedanken machen müsste, wo und unter welchem Namen sie gespeichert sind. Steve Jobs war die treibende Kraft hinter diesem Entscheid. Der damalige Apple-Chef war überzeugt, dass die Dateien und Ordner bei einem einfach zu benutzenden System nichts verloren haben. «Man hat seine Mails nicht im Dateisystem. Nein, das Mailprogramm kümmert sich darum!»

Jobs’ Versteckspiel funktioniert für einfache Zwecke ausgezeichnet. Doch wer programmieren, Videos schneiden oder mehrere Apps zur Zusammenarbeit bewegen will, kommt nicht ums Dateienmanagement herum. Aus diesem Grund gibt es bei iPhone und iPad seit dem letzten Update eine Dateien-App, die mit ihrem spartanischen Charme stark an Fileman erinnert.

Ein Rückschritt. Donald Norman ist Informatikprofessor und Experte für Benutzerfreundlichkeit und hat 1988 in seinem Buch «The Invisible Computer» ein Informationsgerät beschrieben, das nicht die Bedürfnisse der Maschine, sondern die des Nutzers in den Vordergrund stellt. Wenn Norman recht hat, dann sind die Dateien so überholt wie der Fileman von Windows 3.0.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 11. April 2018

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