Die unendliche Geschichte wird jetzt vom Computer erzählt

Ein Computerwissenschaftler baut eine Erzählmaschine, die jedem Zuhörer seine eigene Saga präsentiert.

Matthias Schüssler

«Hier sehen wir die Zukunft der Unterhaltungsindustrie!», behauptete das Techportal «The Verge» am letzten Sonntag. Wenn es nach dieser Prognose geht, werden Algorithmen bald das Geschichtenerzählen lernen und uns individuelle Werke vorsetzen. Der Bestseller hat ausgedient – denn die künstliche Intelligenz produziert nur Einzelanfertigungen.

Anlass dieser Zukunftsvision ist der Podcast «Sheldon County», der für jeden Zuhörer eine neue, unendliche Geschichte erfindet. «Durch Auslösen des Zufallsgenerators beansprucht jeder sein eigenes simuliertes Universum, in dem alle Figuren, Geschichten einzigartig sind – und nur dem Zuhörer gehören», beschreibt der Schöpfer des Podcasts, James Ryan, sein Werk. Erzeugt wird diese Geschichte von einem Computerprogramm namens Hennepin. Es wird von James Ryan im Artikel als «grösste Excel-Tabelle der Welt» beschrieben: mit endlosen Reihen von Zellen, die Figuren, deren Eigenschaften, Beziehungen und Berufe in Verbindung bringen. Die Charaktereigenschaften bestimmen, welche Handlungen möglich sind und welche nicht. So muss eine Figur den Wesenszug «cool» aufweisen, damit sie sich über andere lustig machen kann – sonst passt das eben nicht in den Spielraum, der ihr die Hennepin-Software lässt.

Hoffen auf Zufallsprinzip

Natürlich werden an dieser Stelle Liebhaber von handgefertigter Literatur und menschlicher Fabulierkunst bereits erste Einwände haben: Eine so starre Charakterisierung lässt keine Figurenentwicklungen und keine Überraschungen zu. In «Sheldon County» werden es Doppelagenten oder gespaltene Persönlichkeiten schwer haben und überraschende Wendungen mit Metamorphosen, Verwandlungen von Saulus zum Paulus oder umgekehrt wahrscheinlich ausbleiben. Zu erwarten sind Geschichten nach dem Baukastensystem auf dem Niveau einer Telenovela.

James Ryan studiert an der University of California Computerwissenschaften, und «Sheldon County» ist seine Doktorarbeit. Auf welchem Niveau sie sich bewegt, wird man erst abschätzen können, wenn in einem Jahr die erste Betaversion verfügbar sein wird. Bis jetzt existiert die epische Saga erst als kurzer Machbarkeitsnachweis. Die Hörprobe auf Soundcloud hat drei Folgen und kommt noch ohne individuelle Hörervarianten aus: Jonathan Patience bewohnt als einzige Figur das «Sheldon County». Aber immerhin klingt die künstlich erzeugte Erzählstimme weniger gruselig, als man es befürchten könnte.

In einem Punkt sind sich Literaturund Computerwissenschaftler einig: Im Moment ist Software nicht zu einer echten kreativen Leistung in der Lage. Algorithmen erzählen keine Geschichten, die für uns Menschen relevant wären. Doch man verspricht sich vom sogenannten generativen Storytelling Erfolgserlebnisse nach dem Zufallsprinzip: Bei Milliarden von Geschichten aus «Sheldon County» entsteht vielleicht eine, die dann doch verblüfft. Falls jemand sie sich anhört und das überhaupt merkt.

Auf jeden Fall entstehen mit künstlicher Intelligenz neue Typen der Unterhaltung. Vom MIT aus Cambridge, Massachusetts, kommt @shelley_ai, ein Twitter-Bot, der im Dialog mit anderen Twitter-Nutzern Horrorgeschichten erfindet. Der Name des Bots geht auf Mary Shelley, die Autorin von «Frankenstein», zurück. Gefüttert wurde er mit 140 000 Gruselgeschichten vom «r/nosleep»-Subreddit, einem Forum aus der grossen Community der Website Reddit.com.

Orks versklaven kann belasten

Bei den Computerspielen tragen Algorithmen längst ihren Teil zur Unterhaltung bei. Sie sind häufig fürs «Worldbuilding» zuständig, erzeugen also Spielelandschaften, die bei jedem Spieler anders aussehen. Diese prozedurale Synthese geht bis in die 80er-Jahre zurück. 1991 hat das Aufbauspiel «Civilization» anhand von einigen Vorgaben die zu bewirtschaftende Welt erzeugt. «No Man’s Sky» versprach die Kreation von «18 Trillionen Planeten», inklusive Flora, Fauna und Geologie: ein von der Spielergemeinschaft zu erforschendes Universum. Diese unendlichen digitalen Weiten weckten immense Erwartungen, denen der Titel beim Start nicht gerecht wurde.

So schnell werden Algorithmen den Erzähler und Romancier nicht ablösen. Doch sie greifen bereits in Geschichten ein, indem sie Nebenfiguren steuern. Im Game «Mittelerde: Schatten des Krieges» muss der Spieler Orks versklaven, um eine Armee aufzubauen. Die Orks werden vom Computer erzeugt und sind kein dummes Kanonenfutter: Jeder Ork hat eine Biografie und eine Persönlichkeit, und er pflegt Beziehungen und Konflikte mit seinesgleichen.

Diese Persönlichkeiten seien so lebendig, dass es belastend sei, schrieb ein Tester: «Ich habe seinen Willen gebrochen, ihn in den Orkstall gesperrt und daraufhin das Spiel geschlossen. Und seit dem Moment nicht mehr gespielt.»

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 14. März 2018

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