Hype um Social-Media-App

Vero profitiert vom Facebook-Groll

Ein bislang unbekanntes soziales Netzwerk erhält grossen Zulauf wegen des Unmuts über Facebook und Instagram. Versprochen wird eine «ehrliche, authentische Vernetzung».

Matthias Schüssler

Vero, also lateinisch für «Ich sage die Wahrheit», nennt sich eine Social-Media-Plattform, die ein hehres Versprechen macht: Nutzer sollen sich echt und authentisch zeigen, so wie sie wirklich sind. Es enthält einen deutlichen Seitenhieb auf Facebook: «Es gibt ein Ungleichgewicht zwischen den Interessen der Betreiber und denen der Nutzer», heisst es im «Vero Manifest».

Vero will kein Geld mit Werbung verdienen, sondern sich über eine Abogebühr finanzieren. Es gibt keine Möglichkeit, Posts zu sponsoren und deren Reichweite künstlich zu vergrössern. Und kein Algorithmus greift in den Fluss der Meldungen ein, so wie das inzwischen nicht nur bei Facebook, sondern auch bei Twitter und Instagram der Fall ist. Diese sozialen Netzwerke versuchen selbsttätig, die Flut an Nachrichten nützlicher zu gestalten.

Facebook hat die Ambition, «den richtigen Inhalt zur rechten Zeit» zu präsentieren. Dazu sortieren Algorithmen den Feed um und stellen vermeintlich wichtige Beiträge an den Anfang. Wenn der Algorithmus geringes Interesse vermutet, wird ein Posting nach hinten geschoben oder ausgeblendet. Wie dieser Mechanismus funktioniert, ist geheim – und entsprechend viele Mythen ranken sich um ihn. Als bewiesen gilt, dass Likes und Kommentare zu einer höheren Priorisierung führen und Posts mit Bildern erfolgreicher als solche ohne sind.

Facebook verändert dieses Verfahren laufend. Seit kurzem werden Meldungen von Freunden, Familienmitgliedern und Facebook-Gruppen stärker gewichtet. Beiträge von Unternehmen, professionellen Kommunikatoren und Medienhäusern erhalten eine geringere Priorität. Das haben die professionellen Kommunikatoren deutlich verspürt: Facebooks Anteil bei der Publikumsvermittlung ist zwischen Januar und Oktober 2017 von 39 auf 26 Prozent gesunken, hat Parse.ly ermittelt. Dieses Unternehmen aus New York analysiert den Traffic von 2500 Websites, darunter «Time», «Wall Street Journal» und «Huffington Post».

Lautstarke Facebook-Aussteiger

Facebook straft jene Leute regelrecht ab, die die gleichen Inhalte immer und immer wieder veröffentlichen oder um Likes und Kommentare betteln. Auch die Qualität der Quelle wird mit einbezogen, wenn Facebook berücksichtigt, wie viele Leute Beiträge ausblenden, weil sie sie nicht sehen wollen.

Facebook nimmt mit seinem Algorithmus bedeutenden Einfluss auf die öffentliche Meinung. 126 Millionen US-Amerikaner hätten im Präsidentschaftswahlkampf von Russland finanzierte Anzeigen gesehen, musste das soziale Netzwerk Ende Oktober 2017 vor dem US-Kongress einräumen. Facebook scheint sich in dieser Rolle selbst nicht so ganz wohlzufühlen – so zumindest lassen sich die Rückbesinnung aufs Private und die stärkere Gewichtung der Beiträge von Freunden und Bekannten deuten.

Der Unmut wächst bei vielen Nutzern, im Web häufen sich die Aufrufe, den sozialen Netzwerke den Rücken zu kehren. Autor und Informatikprofessor Cal Newport hat Facebook während eines viel beachteten Vortrags an der Innovationskonferenz TED mit einem Spielautomaten verglichen: «Für ein paar Minuten Ihrer Zeit und ein paar persönliche Daten werden Sie mit einem Leckerli belohnt», sagt er.

Manche gehen noch weiter: Die britische Zeitung «The Guardian» beschrieb vor einigen Monaten in einem grossen Artikel, mit welchen Methoden sich der Manager eines Tech-Unternehmens vor sozialen Medien schützen wollte: «Justin Rosenstein kaufte ein neues iPhone und beauftragte seinen Assistenten, die Kindersicherung einzuschalten, um die Installation von Apps zu verhindern.» Denn Snapchat sei für ihn so süchtigmachend wie Heroin.

Viele sind gescheitert

Viele Nutzer, die nicht ganz so weit gehen wollen, setzen ihre Hoffnungen dieser Tage in Vero. Das soziale Netzwerk, das alles besser machen will: Vero existiert bereits seit 2015, es hat aber erst in den letzten Tagen einen unerwarteten, enormen Zulauf erfahren. «Vero wird durch Mundpropaganda von Onlinegruppen angefeuert», hat die Nachrichtenagentur Associated Press letzte Woche konstatiert. Vor allem unzufriedene Instagram-Nutzer seien umgestiegen. Sie ärgern sich über ein Übermass an Werbung, fehlende Einstellungen zur Privatsphäre und die kürzlich eingeführte Funktion, die Beiträge nun nicht mehr chronologisch anzeigt, sondern wie bei Facebook priorisiert. Instagram ist ein Foto-zentriertes soziales Netzwerk, das 2012 für eine Milliarde -Dollar von Facebook übernommen wurde.

Ob der Unmut über die bestehenden Plattformen ausreicht, um Vero dauerhaft zum Erfolg zu verhelfen, bleibt fraglich. Skeptiker weisen darauf hin, wie lange die Liste der Herausforderer ist, die vielversprechend gestartet und grandios gescheitert sind: Identi.ca präsentierte sich 2008 als Alternative zu Twitter. 2010 wollte Diaspora durch eine dezentrale Struktur das zentrale Sammeln von Nutzerdaten verhindern. 2014 konnte Ello kurzfristig damit punkten, keine Zensur zuzulassen und die Nutzung unter Pseudonym zuzulassen. Und letztes Jahr hat, von der Öffentlichkeit unbemerkt, Microsoft seinen Internettelefondienst Skype in ein soziales Netzwerk umgebaut.

Entscheidend ist für die Nutzer der Netzwerkeffekt: Die Zahl der Nutzer ist auf einer Plattform wichtiger als alles andere – deswegen werden Facebook und Instagram auch weiterhin dominieren, egal wie gross der Unmut auch ist. Chancen haben Neulinge nur in der Nische.

Gefangen in der Flut der Nachrichten: Bei Vero schaltet sich kein Algorithmus dazwischen. Foto: Tom Werner (Getty Images)

Gute Freunde, Freunde und Bekannte: Die Kreise von Vero. Foto: PD

Vero existiert bereits seit 2015, es hat aber erst in den letzten Tagen einen unerwarteten, enormen Zulauf erhalten.

Social-Media-Plattformen

Stärken, Schwächen und Alternativen

Facebook. Die riesige Nutzerschaft ist ein grosses Plus, doch für laute Meinungsäusserungen ist Twitter eine gute Ausweichlösung. Wer sich nur mit der Familie vernetzen will, kann mit Path.com sein Glück versuchen. Technikaffine Leute sind auf Google+ besser zu erreichen als auf Facebook.

Instagram. Das Fotonetzwerk ist populär bei jungen Nutzern und hat auch «Stars» hervorgebracht, die als Influencer mit dicken Werbeverträgen ausgestattet werden, um Product-Placement für Konsumgüter zu betreiben. Alternativen sind Snapchat und Fotosites wie Flickr.com oder 500px.

Linkedin. Die Plattform für die berufliche Vernetzung ist, gut bewirtschaftet, ein genauso guter Traffic-Lieferant wie Facebook. Der Konkurrent Xing aus Hamburg ist im Vergleich ein Zwerg. Als Visitenkarte im Netz bieten sich About.me oder Contactup.io an.

Pinterest. Dieses Netzwerk dient dem Sammeln interessanter Fundstücke aus dem Internet. Vor allem Frauen nutzen das Netzwerk gerne. Und obwohl es im Schatten von Twitter und Facebook steht, zählt es inzwischen zu den Top Ten des Internets.

Reddit und 4chan. Zwei globale Communitys: Die erste ist auf den Austausch von Nachrichten und Ideen spezialisiert, die zweite auf Bilder. (schü.)

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 7. März 2018

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