Das digitale Jahr 2017

Kluge Technik, dumme Entscheide

2017 wurde die künstliche Intelligenz fassbar und das Zahlen per Handy praktisch. Biosensoren sind auf dem Vormarsch, und die Netzneutralität wird aufgegeben. Ein Jahresrückblick von Matthias Schüssler und Rafael Zeier.

Künstliche Intelligenz

Aus Fantasie wird Realität

Die künstliche Intelligenz beschäftigt die Gemüter schon seit langem. Für die einen bedeutet sie Hoffnung – nämlich für jene zukunftsgläubigen Menschen, die mehr Vertrauen in Maschinen als in ihresgleichen hat. Für andere stellt sie eine riesige Projektionsfläche für Verlustängste dar. Kluge Maschinen, die sich selbst weiterentwickeln und programmieren, werden uns Menschen demnach in jedem Bereich überflügeln und überflüssig machen: Davon sind jene überzeugt, die davor warnen, Algorithmen vorbehaltlos zu vertrauen. Und die künstliche Intelligenz ist noch mehr: ein wohlfeiler Ausweg für fantasielose Romanund Drehbuchautoren zum Beispiel, die gerade eine omnipotente Figur benötigen.

2017 hatten wir Gelegenheit zu beobachten, wie eine Menschheitsfantasie langsam in die Realität hinübergleitet. Immer mehr Apps arbeiten mit KI, verarbeiten Daten, finden Muster, sortieren unsere Fotos, stöbern unbekannte Musikperlen aus riesigen Streamingarchiven für uns hervor, kommunizieren mit uns über Smartphones und kluge Lautsprecher und chatten mit uns auf Facebook. Und wir beginnen auch die Limiten zu erahnen: Wirklich klug sind diese künstlich intelligenten Systeme mitnichten. Siri steht oft auf dem Schlauch. Die Bilderkennung des iPhones verwechselt uns auch mal mit unseren Eltern, Geschwistern oder Kindern. Maschinelle Übersetzungen brauchen viel menschliche Fantasie, um nur ansatzweise verstanden zu werden. Und oft ist die Hilfe von Google, Apple, Amazon und Co. doch nur eine Bevormundung – und das smarte Home bis anhin weniger smart, als vielmehr um Welten komplizierter als das alte, dumme Haus.

Wir dürfen uns entspannen: So gross und beeindruckend die Fortschritte auch sind, die Systeme bleiben beschränkt. Mit Kreativität, Gedankensprüngen, Witz und Ironie, schrägen Assoziationen oder vagen Andeutungen sind sie überfordert. Darum freuen wir uns doch darüber, falls ein digitaler Assistent einmal etwas Hilfreiches tut – und müssen uns noch nicht darauf gefasst machen, dass er plötzlich die Herrschaft über unser Leben übernimmt. (schü.)

Blockchain

Totale digitale Transparenz

Die Blockchain ist das Kernstück von Bitcoin und anderen Kryptowährungen. Das allein ist ein Grund für eine ehrenvolle Erwähnung. Denn der Kurs des Internetgeldes zeigte 2017 fast ununterbrochen nach oben. Wer sich getraute, mit dem virtuellen Geld real zu spekulieren, hatte die Chance auf satte Gewinne.

Die Bitcoins wurden 2008 von einem Genie erfunden, das man nur unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto kennt, und das sich der Enttarnung bislang erfolgreich entzogen hat. Seine Schöpfung machte 2017 nebst den Kursrekorden auch noch auf andere Weise von sich reden. Websites wie Piratebay haben sie als Finanzierungsmethode ins Auge gefasst. Statt Werbung anzuzeigen, lassen sie die Computer ihrer Besucher nach Bitcoins schürfen. Das Mining ist, vereinfacht gesagt, das Erschaffen neuer Bitcoins aus dem Nichts. Es ist enorm rechenintensiv und dementsprechend teuer. Doch wenn man diese Arbeit an fremde Computer auslagert, dann ist es eine lohnende Angelegenheit. Auch Apps missbrauchen fremde Smartphones gelegentlich fürs Mining. Und die Nutzer wundern sich, warum die Batterie so schnell leer wird.

Doch die Blockchain als zentrales Element der Bitcoins kann mehr, als Zahlungsmittel aus Bits und Bytes zum Leben zu erwecken. Sie ist als dezentrale Datenbank konzipiert, in der alle Transaktionen aufgezeichnet werden. Niemand «besitzt» oder kontrolliert diese Datenbank. Sie ist bei allen Nutzern gespeichert. Es gibt keine Organisation, die zuständig wäre und der die Nutzer vertrauen müssten.

Es existieren viele Ideen, wofür die Blockchain-Technologie auch noch Verwendung finden könnte: zum Beispiel für Verträge, die für die Öffentlichkeit zugänglich und transparent sind. Für ein faires Entlöhnungssystem beispielsweise bei einem Streamingdienst, wo die Abonnenten die Künstler direkt entlöhnen. Oder bei der digitalen Demokratie: Da könnte die Blockchain Wahlund Abstimmungsresultate bezeugen. Wenn alle Stimmberechtigten jede Stimme direkt überprüfen können, bleibt kein Raum für Betrug und Manipulation. (schü.)

Netzneutralität und -vielfalt

Den drei Grossen ausgeliefert

Mitte Dezember haben die USA die Netzneutralität aufgegeben. Damit ist die Regel gefallen, dass die Internetprovider alle Datenströme unabhängig von Sender, Empfänger und Volumen gleich behandeln müssen. Telecomanbieter können gewisse Inhalte bevorzugen und andere bremsen oder gar blockieren. Das benachteiligt die kleinen Wettbewerbsteilnehmer, die es sich nicht leisten können, für die ungehinderte Durchleitung notfalls zu bezahlen. Das Schreckgespenst eines Zweiklassennetzes steht im Raum, das Start-ups diskriminiert und die Innovation behindert.

Der Verlust der Netzneutralität verändert das Netz, wie wir es kennen. Aber nicht nur die: «Das langsame Sterben des Web begann 2014», behauptet André Staltz. Er ist nach eigenem Bekunden ein «Open-Source-Hacker» aus Brasilien, der heute in Finnland lebt, «wo es schön und kalt ist». Seit 2014, sagt Staltz, führen drei Internetriesen eine fundamentale Veränderung herbei. Google und Facebook kontrollieren einen grossen Anteil der Netzaktivitäten. In Lateinamerika verantworten die beiden Konzerne mehr als 70 Prozent des mobilen Datenverkehrs.

Der dritte Gigant heisst Amazon: nicht nur dominant im E-Commerce, sondern auch bei der Infrastruktur, bei dem ein Grossteil der Anbieter im Web eingemietet ist. Die Entwicklung des Netzes wird sich nicht mehr an den Interessen der breiten Nutzerschaft, sondern an den Bedürfnissen der grossen drei ausrichten. Und die werden es nach ihren Wünschen umbauen. Staltz nennt das Resultat denn auch nicht mehr Internet, sondern «Trinet» – ein virtueller Ort, wo man schnell heimatlos wird, wenn man es sich mit Google, Facebook oder Amazon verscherzt.

Das ist eine Dystopie, klar. Doch hat Staltz nicht unrecht, wenn er sagt, die ursprüngliche Vision des World Wide Web sei in Gefahr. Dessen Vater, Tim Berners-Lee, hat es sich als ungeordneten Raum ohne Abhängigkeiten ausgedacht, wo inhaltliche Vielfalt direkt mit infrastruktureller Diversität zusammenhängt. Eine Monokultur hatte er nicht im Sinn. (schü.)

Fotos: Alamy, iStock, Urs Jaudas

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 27. Dezember 2017

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