Netzneutralität In den USA entscheiden Internetanbieter selbst, welche Websites sie bevorzugen. Die digitale Demokratie ist bedroht – auch in Europa.

Und welches Internet haben Sie?

Von Matthias Schüssler

«Sie verstehen nicht, wie das Internet funktioniert.» Dieser happige Vorwurf kam nicht von irgendwem, sondern von Tim Berners-Lee, dem Erfinder des World Wide Web. Auch Apple-Legende Steve Wozniak und andere Ikonen der Branche haben den offenen Brief unterzeichnet, in dem der US-Kongress aufgefordert wurde, die sogenannte Netzneutralität beizubehalten. Die neue Regelung der Telekommunikationsbehörde FCC sei eine unmittelbare Gefahr für jenes Internet, das «wir mit harter Arbeit aufgebaut haben», schreiben die Pioniere. Genützt hat es nichts. Mitte Dezember hat die FCC die Netzneutralität faktisch abgeschafft.

Das bedeutet: Die Internetanbieter müssen künftig nicht mehr alle Daten gleich behandeln. Denn genau das hatte die Netzneutralität vorgeschrieben: Egal, wer der Empfänger und wer der Absender ist, egal, wie gross oder klein die Datenmenge ausfällt – die Telecomunternehmen mussten alles unbesehen durchleiten. Sie durften nicht bremsen und nicht blockieren.

Ein verlockendes Angebot

Das klingt fair und gerecht. Doch: Das Umgehen der Netzneutralität ist sehr verlockend – für die Kunden und für die Anbieter. Sunrise beispielsweise zieht den Kunden Whatsapp-Nachrichten nicht vom Datenguthaben ab. Bei manchen Abos ist sogar im Ausland ein kostenloses Whatsapp-Guthaben mit dabei. Auch Salt hat ein solches Zero-Rating-Angebot: Der Telecomanbieter ermöglicht jungen Kunden unbegrenzten Musikgenuss via Spotify, das Musikstreaming wird nicht verrechnet. Die Swisscom ihrerseits priorisiert Daten für Telefongespräche und fürs Fernsehen via Swisscom TV.

Aus Sicht des Kunden klingt das toll: Das Zero-Rating spart Geld und bannt die Gefahr, das Datenkontingent vorzeitig aufzubrauchen. Und die Priorisierung garantiert Telefongespräche und Fernsehkonsum ohne Aussetzer. Geradezu unverzichtbar ist die Bevorzugung ausserdem bei der Telemedizin oder bei selbstlenkenden Autos. Hier könnten minimale Verzögerungen fatale Folgen haben – bei einem E-Mail ist eine längere Übertragungszeit hingegen vernachlässigbar.

Sind Tim Berners-Lee und Steve Wozniak also ideologische Betonköpfe, die nicht damit leben können, wenn sich das Netz modernen Gegebenheiten anpasst? Nein. Denn die für den Kunden so attraktive Bevorzugung von Whatsapp und Spotify ist gleichzeitig eine Benachteiligung der Konkurrenz. Sunrise beispielsweise macht den Schweizer Messenger Threema – der aus Sicherheitsgründen womöglich die bessere Lösung wäre – den Kampf gegen Whatsapp zusätzlich schwer.

Hinzu kommt: Wenn die Provider nicht zur Netzneutralität verpflichtet sind, schwinden die Anreize für einen Netzausbau und möglichst hohe Kapazitäten. Denn die Anbieter können Engpässe sogar extra erzeugen: «2016 bestanden erhebliche Verdachtsmomente, dass Swisscom und UPC-Cablecom den US-Anbieter Netflix durch eine künstliche Verknappung ihrer Interkonnektionskapazitäten von ihren Kunden fernhalten, um eine entsprechende Bezahlung zu erwirken», schreibt die Digitale Gesellschaft, ein gemeinnütziger Verein, der sich für eine offene Wissensgesellschaft einsetzt. Ob Netflix damals zahlte, ist offen, aber gemäss Branchenkennern ist das eher unwahrscheinlich. Anders sah es aber 2014 aus, als Netflix einen erbitterten Streit mit dem US-Anbieter Comcast ausfocht. Er endete in einer Abmachung, durch die gemäss der «New York Times» mehrere Millionen US-Dollar pro Jahr an Comcast fliessen.

Verzerrter Wettbewerb

Wenn schnelle Datenübertragungen künftig mehr kosten, führt das zu einer Wettbewerbsverzerrung. «Der Spiegel» geht noch weiter und setzte das Ende der Netzneutralität mit der Abschaffung der Demokratie gleich: «In einer digitalen Welt und einer digitalen Demokratie ist diese Neutralität überlebenswichtig, sie ist in gewisser Weise die Lebensader der Gesellschaft.» Das ist womöglich etwas dramatisiert und zugespitzt. Aber nur ein bisschen. Denn ohne Netzneutralität ist es schlicht viel zu einfach, im Netz unliebsame Dinge verschwinden zu lassen.

Noch fliessen die Daten meist gleich schnell durch die Glasfaserkabel. Foto: Rolf Vennenbernd (Keystone, DPA)

Quelle: Tages-Anzeiger, Donnerstag, 21. Dezember 2017

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