Romantiker und andere Offliner aus Überzeugung

Alle Schweizer nutzen das Internet. Alle? Nein, ein paar Offliner weigern sich – aus unterschiedlichen Gründen, die allesamt nachvollziehbar sind.

Eine Einschätzung von Matthias Schüssler

In einer brandneuen Erhebung hat das Bundesamt für Statistik herausgefunden, dass in der Schweiz fast neun von zehn Haushalten einen Internetzugang zu Hause haben. Die Nutzung des Netzes hängt demnach stark vom Alter ab. Zugelegt haben in den letzten drei Jahren vor allem die älteren Semester. Bei den 55- bis 64-Jährigen ist der Anteil von 80 auf 91 Prozent gestiegen. Bei den 65- bis 74-Jährigen sind heute 77 Prozent im Netz, gegenüber 62 Prozent 2014.

Die Gruppe der 15- bis 54-Jährigen ist zwischen 96 und 99 Prozent online. Bei ihr gab es seit der letzten Erhebung kaum eine Veränderung. Das Bundesamt für Statistik deutet das so, dass die Sättigungsgrenze erreicht ist. Das bedeutet auch, dass ein kleiner Teil von 1 bis 4 Prozent dieser Gruppe sich nicht einfach nur Zeit lässt, bis er sich eine technische Neuerung ins Haus holt. Nein, er entscheidet sich bewusst gegen ein Leben mit dem Internet.

Einer, der zu dieser Minderheit gehört, ist mein Vater. Er liest analoge Bücher und Zeitungen aus Papier. Er schaut lineares Fernsehen und hört am liebsten Radio Swiss Jazz via DAB. Er bucht seine Reisen im Reisebüro und am SBB-Schalter. Er benutzt das Festnetz und hält sich bei den Skype-Gesprächen meiner Mutter im Hintergrund und ausser Sichtweite der Kamera. Und er würde sich ein Handy weder schenken noch aufdrängen lassen.

Ich habe versucht, ihn in der Kategorisierung von Joël Luc Cachelin zu verorten. Der BWL-Absolvent der Universität St. Gallen und Gründer des Thinktanks Wissensfabrik hat 2015 ein Buch über die «Offliner» geschrieben. Das sind Internetverweigerer, die sich aus unterschiedlichen Gründen auf die Seite einer Gegenkultur geschlagen haben.

16 Typen von Abstinenzlern

Cachelin unterscheidet 16 Typen, die aus wirtschaftlichen, politischen, sozialen oder technologischen Gründen abstinent sind: Da gibt es die, die sich vom Internet bedroht fühlen. Es gibt die Datenschützer und die Selbstverwalter, die nicht Teil einer globalen Struktur sein wollen. Es gibt die Entschleuniger, die Kulturpessimisten, die Gottesfürchtigen und die Einsamen. Und da gibt es die Romantiker, die eine Beziehung nur dann für echt halten, wenn man sich dabei in die Augen schaut und sich gegenseitig ins Gesicht atmet. Sie sind meines Erachtens die Schlimmsten.

Digitale Diät

Zu dieser Gruppe zählt der Zukunftsforscher Horst Opaschowski, der letzte Woche über diverse deutsche Medien zu einer «digitalen Diät» aufgerufen hat: Man solle doch zumindest zeitweise aus «dem Erreichbarkeitsund Beschleunigungswahn aussteigen und stattdessen echte Freundschaften pflegen». Als ob man online keine echten menschlichen Kontakte pflegen könnte. Natürlich kann man! Ein ausgedehnter Chat oder ein feuriges E-Mail-Hin- und-Her können genauso echt sein – und da würde ich nicht einmal das Sexting ausklammern.

Jedenfalls passt mein Vater in keine von Joël Luc Cachelins Kategorien so richtig. Er hält das Internet in keinster Weise für eine Bedrohung. Er schliesst nicht aus, dass es dort interessante Dinge zu lesen gibt. Er kann sich sogar vorstellen, dass er selbst vom Netz profitieren würde, wenn er denn Lust hätte, es zu benutzen. Es ist nun aber einfach so, dass eben genau das nicht der Fall ist. So wie manche von uns nicht auf Quinoa, nicht auf Beer Pong, Elektrovelos oder White-Denim-Jeans gewartet haben, so hat eben das Internet keine Anziehungskraft auf ihn. Cachelin sollte seine Liste um Typ 17, den Ungerührten, ergänzen.

Natürlich: Wer heute im Arbeitsleben steht, wird sich nicht mit der Begründung «Keine Lust!» aus dem Netz fernhalten können. Egal. Wer das Netz nicht aus Begeisterung benutzt, der benutzt es halt aus Notwendigkeit.

Verordnete Euphorie

Wie gross die Begeisterung fürs Internet hierzulande ist, verrät die eingangs erwähnte Erhebung des Bundesamts für Statistik nicht. Ich nehme an, dass Leute wie ich, die die digitale Vernetzung für die grossartigste Erfindung seit dem Faustkeil halten, hierzulande in der Minderheit sind. Ein Indiz für die Vermutung ist der «Digital Day» von gestern, der mit viel bundesrätlicher Prominenz und breiter Unterstützung aus der Wirtschaft Lobbyarbeit für die Digitalisierung des Landes betreibt. Ob das bei den Leuten verfangen hat, die bis jetzt nicht in Euphorie ob der neuen Möglichkeiten dieser technischen Revolution verfallen sind? Ich werde bei Gelegenheit meinen Vater fragen.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 22. November 2017

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