Ist der Freiheitsgedanke im Netz am Ende?

Aktivisten für frei nutzbare Software befürchten das Schlimmste: Eine geplante Gesetzesänderung der EU bedrohe das ganze Internet. Klar ist jedenfalls: Viele Informationsdienste wie Wikipedia sind betroffen.

Matthias Schüssler

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Interessenvertreter mit Extremszenarien operieren, wenn es um die Bekämpfung neuer, missliebiger Gesetze geht. Denn mit moderaten Argumenten kann die Öffentlichkeit kaum mobilisiert werden. Dennoch lässt aufhorchen, wenn die Befürworter freier Software nun gleich den Untergang des (digitalisierten) Abendlandes heraufbeschwören: Ein Gesetzesentwurf der Europäischen Union gefährde die Technik, die unsere moderne Welt antreibe, unterstellt ein offener Brief, der in der Open-Source-Community auf breiter Front mitgetragen wird: «Dein Mobiltelefon, dein Auto, dein WLAN-Router zu Hause, dein Fernseher, das Flugzeug, mit dem du in die Ferien fliegst – sie alle enthalten freie und offene Software.»

Bereits an der Quelle filtern

Auslöser ist Artikel 13 einer neuen Urheberrechtsrichtlinie der EU, über die das EU-Parlament noch in diesem Jahr abstimmen soll. Sie will beim Kampf für das geistige Eigentum auch die Internetplattformen in die Pflicht nehmen, über die Entwickler ihren Programmcode tauschen. Betroffen wären Dienste wie GitHub, Stack Overflow und GitLab, die für die Softwareentwicklung längst eine zentrale Rolle einnehmen. Die Betreiber müssten mittels Uploadfilter sicherstellen, dass die Nutzer kein illegales Material hochladen. In einer Variante des Artikels 13 wären die Plattformen sogar haftbar für Urheberrechtsverletzungen der Nutzer.

Solche automatisierten Kontrollen sind bei vielen Plattformen üblich. Youtube setzt seit Jahren ein System namens Content-ID ein. Es gleicht hochgeladene Videos mit einer Datenbank ab, in der Rechteinhaber ihre geschützten Inhalte hinterlegen. Verwendet ein Youtuber zum Beispiel ohne Lizenz einen Popsong im Video, wird automatisch ein Content-ID-Anspruch erhoben. Er führt zu einer Sperrung oder einer Stummschaltung. Ausserdem schaltet Youtube bei diesen Videos keine Werbung.

Die Content-ID ist umstritten, weil das automatische System auch Videos blockiert, die sich auf Fair Use berufen. Dieses US-amerikanische Rechtsprinzip erlaubt die nicht lizenzierte Verwendung etwa für Kritiken und Kommentare, journalistische Berichterstattung oder für den Unterricht. Und manchmal schiesst die Content-ID auch übers Ziel hinaus. 2015 wurde ein kurioser Fall eines Katzenvideos publik: In dem einstündigen Clip des schnurrenden Stubentigers Phantom erkannte der Musikverlag EMI seinen Song «Focus».

Trotz dieser Kritik kann man Youtubes Content-ID als Beleg dafür sehen, dass solche automatisierten Filter keineswegs existenzgefährdend für Plattformen mit nutzergenerierten Inhalten sind. Übertreiben die Open-Source-Advokaten womöglich?

Das halbe Netz ist betroffen

Die digitale Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) postuliert die fundamentalen Unterschiede zu den geplanten Filtern: Die Content-ID beziehe sich nur auf Videos und Fotos, doch gemäss Artikel 13 wären jegliche Inhalte betroffen. Er beziehe sich auf «Diensteanbieter der Informationsgesellschaft» – was gemäss der EFF auch auf viele andere Angebote im Netz zuträfe: von der Blogging-Plattform Tumblr über die Kunst-Community DeviantArt bis hin zum Webarchiv Archive.org oder Wikipedia. Manche Medien, wie das Newsportal Futurezone. at, sehen denn auch schon das «freie Wissen» im Netz per se in Gefahr. Ironisch ist jedenfalls, dass die Reform unter der estnischen EU-Ratsherrschaft vorangetrieben wird – gilt Estland doch als «digitalster Staat von Europa».

Open Source

Freie und kommerzielle Software mischen sich längst

Offene, freie Software wird oft auch heute noch mit Idealismus gleichgesetzt. Die Bewegung für die freie Software geht in die 80er-Jahre zurück und stellt den Benutzer ins Zentrum: Er soll Software nicht nur gratis und frei nutzen, sondern auch überprüfen, teilen und verändern dürfen. Doch Open Source und kommerzielle Software lassen sich inzwischen kaum mehr voneinander trennen. Daran erinnert Apple: Der Softwarekonzern hat soeben den Quellcode seiner neuesten Betriebssystemversionen veröffentlicht. Denn sowohl das Desktop-Betriebssystem macOS als auch die iPhoneund iPad-Software iOS basieren im Kern auf freier Software. Der offene Unterbau nennt sich Darwin. Er beinhaltet Treiber und hardwarenahe Komponenten, und stammt von einer Unix-Variante, die zwischen 1977 und 1995 an der University of California in Berkeley entwickelt wurde. Die Benutzeroberfläche und die Anwendungsprogramme sind Eigenkreationen von Apple, deren Code geheim ist. Apple hat 2015 auch seine Programmiersprache Swift als Open Source freigegeben.

Für einige Spekulationen hat Apple diese Woche gesorgt, weil erstmals nicht nur die Darwin-Variante für die Intel-Prozessoren öffentlich gemacht wurde, sondern auch diejenige für die ARM-Architektur. Das befeuert die Vermutung, Apple könnte seine Laptops und Desktop-Computer mittelfristig mit eigenen ARM-Prozessoren bestücken.

Microsoft hat sein Open-Source-Engagement in den letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut. Der Konzern hat letzte Woche mitgeteilt, er sei jetzt ein Hauptsponsor der Open-Source-Initiative. Diese Non-Profit-Organisation, bei der sich auch Google, IBM oder HP engagieren, setzt sich für offene Software ein.

Microsoft hat 2014 mit.Net eine wichtige Basistechnologie für die Open-Source-Gemeinschaft geöffnet. Windows bleibt zwar ein proprietäres System, doch Microsoft hat bei seinem Betriebssystem 2016 das Linux-Subsystem eingebaut. Es öffnet Windows für «fremde» Programme. (schü.)

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 4. Oktober 2017

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