Wie Sie lernen, eine Boeing zu landen

Die Frage- und-Antwort-Plattform Quora befriedigt Lernwillige, gibt Lebenshilfe – und beweist, dass im Netz noch Platz ist für Sites, bei denen die Nutzer die Autoren sind. Nun expandiert Quora in den deutschsprachigen Raum.

Matthias Schüssler

Was tun, wenn während einer Flugreise beide Piloten ohnmächtig in ihren Sitzen hängen und niemand da ist, der die Passagiermaschine sicher auf den Boden bringen könnte? Das war der Stoff, der 1975 das Publikum in die Kinos lockte, wo sich im Film «Giganten am Himmel» ein Pilot aus dem Helikopter ins Cockpit abseilte. Heute wäre die Lösung eine komplett andere: Der Held des Tages würde sein Smartphone zücken und dem Internet die Frage stellen: «Wie lande ich ein Flugzeug?»

Und das Internet würde antworten: «Ein Flugzeug wie eine Boeing 737 fliegt erst einmal ganz sicher mit Autopilot. Nimm darum in aller Ruhe mit der Luftraumüberwachung Kontakt auf. Wenn du dich dem Flughafen näherst, gilt es, die Geschwindigkeit zu reduzieren, von 250 Knoten auf 140. Schalte den Autopiloten ab, ziehe den Schubhebel zurück, nähere dich der Landebahn in der richtigen Höhe. Fahre dann die Bremsklappen aus und gehe auf Umkehrschub. Schalte den bei 80 Knoten wieder aus und tritt aufs Bremspedal.»

Tim Morgan ist Berufspilot und für die ausführliche Anleitung inklusive Erklärung der Bordinstrumente und Video auf Quora.com verantwortlich. Quora bringt seit 2009 Leute, die etwas wissen möchten, mit auskunftsfreudigen Nutzerinnen und Nutzern zusammen. 13 Millionen Antworten umfasst das Archiv, und wenn man Google mit englischsprachigen Fragen füttert, tauchen in der Resultateliste meist Quora-Einträge auf.

Viele Informationsbegehren könnten von Eltern stammen, die vor ihren neugierigen Kindern nicht als unwissend dastehen wollen. Zum Beispiel: Wie viele Häuser stehen in den USA? Welche chinesischen Zeichen muss man beherrschen, um über die Runden zu kommen? Und: Warum sind Sterne sternförmig, wenn sie doch Gaskugeln sind?

Lebenshilfe oder Unterhaltung?

Die erste Frage wird von einem Statistiker mit einer ausführlichen Tabelle beantwortet. 134 Millionen Gebäude gibt es in den USA, davon 82 Millionen allein stehende Einfamilienhäuser. 6,8 Millionen Wohnhäuser haben 50 Wohnungen und mehr. Um die zweite Frage kümmert sich ein chinesischer Student: 3500 gängige Schriftzeichen reichen für die tägliche Kommunikation. Bei der dritten schreibt ein Astronomiefan: «Staubteilchen und atmosphärische Wirbel führen dazu, dass wir sie als Vielecke wahrnehmen.»

Viele Fragen drehen sich um die echten Herausforderungen des Lebens: Wie bereite ich mich auf ein Bewerbungsgespräch vor? Wie wird ein Youtube-Video zum viralen Hit? Wie bekomme ich einen Job beim indischen Auslandsgeheimdienst R & AW? Doch wenn der Anspruch echte Lebenshilfe ist, dann stellt sich auch die Frage, wie verlässlich die Antworten sind. Das braucht auch bei Quora eine gute Portion Medienkompetenz und aktive Teilnahme. Als Nutzer kann man, selbst wenn man keine Antworten verfasst, Beiträge je nach Glaubwürdigkeit heraufund herunterstufen. Bei den populären Themen sollten die hilfreichen Erklärungen nach oben rutschen – was sie in der Regel auch tun.

Doch das Dilemma bleibt: Wenn man von einem Thema wenig versteht, dann bleibt nur, die Kompetenz des Autors abzuschätzen. Und das ist nicht immer so einfach wie im Fall von Pilot Tim Morgan, der die Flugzeuglandung gleich im Simulator vorführt.

Quora fordert die Nutzer auf, respektvoll und hilfreich zu sein. Es gibt die Regel, dass man unter seinem richtigen Namen postet, und die Beiträge werden moderiert: so intensiv, dass Kritiker sagen, man könne als Nutzer schon gesperrt werden, nur weil ein Moderator eine andere Meinung habe. Auch selbstlernende Algorithmen helfen dabei, falsche, irreführende, polemische und allzu einseitige Beiträge zu verhindern. Und Quora achtet auch auf ordentliche Rechtschreibung und verständliche Grammatik.

Das spürt man als Nutzer. Beiträge sind oft zurückhaltend formuliert, und heikle Punkte bleiben unangetastet. Zum Beispiel bei der Frage: Wie ist die Schweiz so reich geworden? Die Top-Antwort stammt von einem in Monte Carlo lebenden Amerikaner. Er erwähnt als historische Gründe die Alpenzölle und die Reisläufer und für die Moderne die Wirtschaftsgiganten Novartis, Nestlé und Glencore. Und natürlich die Banken: «Die Schweizer Banker waren diskret und ausgezeichnete Geldverwalter» – Nazigold oder Steuervermeidung bleiben unerwähnt.

Fragen, die offenbleiben

Quora ist dabei, eine deutschsprachige Version zu lancieren. Adam D’Angelo, CEO und Mitbegründer von Quora, sagte gegenüber Wired.de, der Bedarf dafür sei vor dem Hintergrund der wachsenden Zugriffszahlen gegeben – auch wenn es für den deutschsprachigen Raum einen harten, bereits 2006 gegründeten Konkurrenten gibt. Auf Gutefrage.net werden ebenfalls Fragen aus allen Lebenslagen behandelt, allerdings mit einem klaren Schwerpunkt auf die Themen Medizin, Beziehungen, Sex, Sport und Freizeit – plus natürlich die unvermeidlichen Probleme mit Handy und Computer.

Und ja: Es gibt die Fragen, die auf allen Webcommunities unbeantwortet bleiben. Zum Beispiel die: Welche Armlehne im Kino gehört mir?

Übung macht den Meister: Eine Frau lässt sich im Simulator in der Kunst des Fliegens unterrichten. Foto: Mario Fourmy (Laif )

Quora verlangt nach Medienkompetenz und Teilnahme. Nutzer bewerten die Antworten nach Glaubwürdigkeit.

Crowdsourcing und User-generated Content

Wo die Leser auch die Urheber sind

Wikipedia ist mit inzwischen 38 Millionen Artikeln die bekannteste Website, deren Inhalte von den Nutzern bestritten wird. Das Prinzip des «User-generated Content» funktioniert aber auch bei anderen Websites – beispielsweise bei Flickr, Youtube und der Audioplattform Soundcloud. Von der Kreativität der Nutzer leben auch diese Sites:

Reddit.com wird auch als Diskussionsplattform bezeichnet. Sie wirkt selbst auf erfahrene Internetnutzer erst einmal ungeordnet bis chaotisch. Doch Kenner schätzen gerade diesen Wildwuchs. «Reddit ist eine unverzichtbare Informationsquelle, ein freier Marktplatz der Ideen mit einem Selbstverteidigungsmechanismus, der für Marketingleute fast unbezwingbar ist», erklärte der Kenner der Plattform, Matt Silverman. Die Themenforen heissen «Subreddits», und ausgeklügelte Mechanismen sorgen dafür, dass populäre Themen aus der Tiefe der Website an die Oberfläche gespült werden. Auch Reddit pflegt das Frage-Antwort-Spiel: Im Subreddit «IAmA» standen nicht nur Bill Gates und «Game of Thrones»-Star Peter Dinklage Rede und Antwort, sondern auch Barack Obama und Donald Trump.

Atizo.com betreibt soziale Innovation. Auf der Schweizer Plattform erhalten Unternehmen Hilfe dabei, neue Produkte und Marketingstrategien zu entwickeln. Rivella hat mithilfe der Community die Geschmacksrichtungen Rhabarber und Pfirsich zur Marktreife geführt. Die Carsharing-Genossenschaft Mobility ihrerseits wollte wissen, wie gross der Wunsch der Kunden ist, ihr Mietauto nicht an den gleichen Ort zurückbringen zu müssen, an dem sie es abgeholt haben. Für gute Inputs wird oft eine Prämie angeboten.

DeviantArt.com stellt digitale Kunstwerke aller Art aus: vom Foto über Illustrationen und Animationen bis hin zu 3-D-Objekten. Auch gestalterische Hilfsmittel, zum Beispiel für die Verwendung in Photoshop, sind auf der Plattform erhältlich. Im Shop können die Nutzer ihre Werke zum Kauf anbieten, sei es als Kunstdruck, Postkarte, Magnet, Mauspad oder Kaffeetasse.

FanFiction.net ist die grösste Anlaufstelle für die Verehrer von Filmen und Büchern, die die Originalwerke durch eigene Geschichten weiterspinnen. Am populärsten ist Harry Potter, zu dem es sagenhafte 587 000 Einträge gibt – von kurzen, fragmentarischen Episoden bis hin zu epischen Werken mit Tausenden von Seiten. Über eine ausgeklügelte Suchfunktion filtert man nach Figuren, Sprache, Bewertung und dem Zeitverhältnis zum Originalwerk.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 21. Juni 2017

Rubrik und Tags:

Faksimile
170621 Seite 33.pdf

Die Faksimile-Dateien stehen nur bei Artikeln zur Verfügung, die vor mindestens 15 Jahren erschienen sind.

Metadaten
Thema: Aufmacher
Nr: 14426
Ausgabe:
Anzahl Subthemen: 1

Obsolete Datenfelder
Bilder:
Textlänge:
Ort:
Tabb: FALSCH