Fotografie

Mehr als das Kameraauge sieht

Die Fotografie ist nicht mehr das, was sie einmal war – sie ist viel mehr und kaum mehr wiederzuerkennen. Die digitale Bildverarbeitung macht Dinge möglich, die die Physik verbietet und lehrt uns das Sehen neu. Matthias Schüssler

Die Fotografie, das ist jene Methode, bei der Licht durch ein Linsensystem auf einen Film oder einen Sensor fällt und dort festgehalten wird. Wieweit diese Aufnahme der Wirklichkeit entspricht, darüber lässt sich streiten oder philosophieren. Jedenfalls gibt es Leute, die Reflexionen der Linsen (Lens flares) allen Ernstes für Geister halten – und Menschen, die sich auf Fotos grundsätzlich für zu dick halten, weil die Kamera ja fünf Kilo hinzufügt.

Trotzdem: In der analogen Fotografie gibt es eine direkte, klare Beziehung zwischen Objekt und Abbildung. Sie wird vom Film, der Optik und der Hand des Fotografen bestimmt, bleibt aber fassbar. Klar – was nach der Aufnahme mit einem Bild passiert, ist eine ganz andere Sache. Viele legendäre Aufnahmen wurden erst in der Dunkelkammer zu dem, was sie sind – wie eine eindrückliche Gegenüberstellung von unbearbeiteten Bildern zeigt: bit.ly/dunkelkammer.

Im Photoshop-Zeitalter sind die Bearbeitungsmöglichkeiten viel grösser. Trotzdem ist die vorherrschende Meinung, der technische Fortschritt ändere die Fotografie nicht grundsätzlich. Statt des Films kommt ein Sensor zum Einsatz – basta! Doch das ist ein Trugschluss: Der technische Fortschritt verändert die Fotografie grundlegend. Das hat Folgen fürs Handwerk. Und es ist noch nicht abschätzbar, wie sich unser Verständnis davon wandeln wird, was ein Foto überhaupt ist.

Algorithmen sind am Drücker

Diese Entwicklung ist längst im Gang. Algorithmen nehmen sich bereits in der Kamera der Bilder an. Sie rechnen Fotos knackig, indem sie die Sättigung hochdrehen, nachschärfen oder Mankos der Hardware beseitigen. Bekannt ist der Fall der Sony Cyber-Shot RX-100. Die macht konstruktionsbedingt Bilder mit enormer Verzeichnung, von denen der Fotograf überhaupt nichts mitbekommt. Die Tonne wird nämlich stillschweigend weggerechnet (bit.ly/rx100tonne).

Das ist erst der Anfang. Einen automatischen HDR-Modus gibt es inzwischen in jedem Smartphone. Ebenso eine Panoramafunktion. Das iPhone 7 Plus imitiert mit seinem Porträtmodus die geringe Schärfentiefe einer Spiegelreflex- oder spiegellosen System-­kamera und es kombiniert zwei separate Linsen zu einem virtuellen Objektiv. Das deckt einen Brennweitenbereich ab, der mit einem physischen Objektiv niemals zu erreichen wäre. Eine solche Optik passt nicht in ein so dünnes Gehäuse.

Die Light L16 ist, der Name sagts, eine Kamera mit 16 Linsen. Die werden, je nach Situation, unterschiedlich kombiniert, um hochauflösende, licht- oder brennweitenstarke Aufnahmen zu machen. Auch ein nachträgliches Verschieben des Fokuspunkts ist bei dieser (bislang nicht in grossen Stückzahlen erhältlichen) Kamera möglich.

Dieses Refokussieren in der fertigen Aufnahme ist die Spezialität der plenoptischen Kamera, die man auch Lichtfeldkamera nennt. Solche Apparate (wie die unter bit.ly/lytrotest vorgestellte Lytro) speichern nicht nur Helligkeit und Farbe, sondern auch die Richtung eines Lichtstrahls auf dem Sensor. Es versteht sich von selbst, dass dieser Trick nur mit viel Rechenpower gelingt und analog nicht reproduzierbar ist.

Wenn die digitale Bildverarbeitung die erste Geige spielt, spricht man auch von Computational Photography. Und es zeigt sich, dass die Algorithmen ganz gehörig an Fahrt zulegen und Dinge ermöglichen, von denen unsere Eltern mit ihren Kodak-Instamatic- oder Agfa-Rapid-Knipsen nicht zu träumen wagten:

Giga- und Terapixel-Aufnahmen: Auflösungen von Milliarden oder gar Billionen Pixeln sind physisch nicht möglich, weil sie das Auflösungsvermögen der Objektive sprengen. Aber sie lassen sich erzeugen, indem Tausende Bilder mit einem Roboter-Stativkopf wie dem GigaPan Epic fotografiert und per Stitch-Programm zusammengefügt werden. Ansehen lassen sie sich nur am Bildschirm, mit freier Zoom- und Verschiebe-Möglichkeit.

Focus Stacking: Zu Deutsch spricht man auch von Schärfentiefeerweiterung. Bei dieser Methode werden mehrere Bilder mit unterschiedlicher Schärfeebene so verrechnet, dass im Endresultat die Aufnahme durchgehend scharf ist. Besonders eindrücklich ist das in der Makrofotografie. Im Nahbereich wird die Schärfentiefe aus optischen Gründen so gering, dass typischerweise nur ein ganz kleiner Teil des Motivs wirklich scharf ist.

Weitere Multi-Shot-Techniken: Unter Multi Shot versteht man das Verrechnen mehrerer Aufnahmen, wie es beim Panorama- und Gigapixel-Stitching und beim Focus Stacking betrieben wird. Es gibt noch mehr Möglichkeiten: Mit Multi-Frame oder Pixel Binning wird das Bildrauschen reduziert. Mit dem Median Stacking (oder Median Blending) lassen sich auch unerwünschte Elemente, zum Beispiel Menschen aus einem Landschaftsbild entfernen.

Kamera ohne Optik

Nebst Kameras mit virtuellen Objektiven ist auch die objektivlose Kamera im Entstehen begriffen. Sie funktioniert nach dem Prinzip der Lochkamera, verwendet aber nicht nur ein Loch, sondern Millionen davon. Das macht das Manko der klassischen Camera Obscura wett, nämlich die Lichtschwäche. Auch dieser Trick funktioniert nur mit leistungsfähigen Algorithmen, welche die sich überlagernden Bilder fokussieren. Die FlatCam, die in Texas entwickelt wird, könnte nur einen Millimeter dünn, aber Quadratmeter gross sein. Oder in Kugel- oder Zylinderform in alle Richtungen gleichzeitig blicken.

Aufnahme der Facettenaugen einer Drohne, fotografiert durch ein Mikroskop und zusammengefügt per Focus Stacking aus 83 unterschiedlich fokussierten Bildern. Male honey bee ocelli von Gilles San Martin/Flickr.com (CC BY-SA 2.0)

Quelle: Publisher, Donnerstag, 30. März 2017

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Thema: Computational Photography
Nr: 14254
Ausgabe: 17-2
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