Das E-Mail stirbt einen langsamen Tod

Die Zahl der verschickten Mails steigt kontinuierlich, ebenso diejenige der Nutzer. Und dennoch: Der Ur-Dienst des Internets hat seinen Glanz verloren. Er wird heute hauptsächlich für automatische Mitteilungen und Marketing genutzt.

Matthias Schüssler

680 Milliarden Mails sind letztes Jahr in Deutschland verschickt worden, mehr als je zuvor. Und das Wachstum soll weitergehen. Für 2017 wird ein Plus von 17 Prozent erwartet. Das verkündeten am Montag die beiden Mailanbieter GMX und Web.de. Überraschende Zahlen – denn in der subjektiven Wahrnehmung ist E-Mail eine Kommunikationsform der Vergangenheit. Sie wurde über die letzten Jahre immer wieder für tot erklärt. 2009 etwa vom bekannten Tech-Kolumnisten John C. Dvorak «E-Mail ist ein schwarzes Loch.» Man wisse nie, ob eine Nachricht überhaupt angekommen sei. Und darum könne jeder, der zu faul sei, eine Antwort zu verfassen, die Hände in Unschuld waschen.

Letztes Jahr wurde das E-Mail erneut beerdigt, dieses Mal vom Portal Techcrunch. Die Jungen foutierten sich darum, lautet die These im Artikel. Sie wird von einer Ende letzten Jahres veröffentlichten Schweizer Erhebung gestützt. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat im Auftrag von Swisscom die Mediennutzung der Jugend hierzulande untersucht. Gemäss der James-Studie wird E-Mail umso intensiver genutzt, je älter die Jugendlichen sind. Doch auch bei der ältesten Gruppe der 18- und 19-Jährigen verzichtet mehr als die Hälfte darauf. Soziale Netzwerke, Chats und Internettelefoniedienste wie Skype sind wichtiger.

Ein Autor des «Cnet Magazine» hat in den Abgesang eingestimmt: Er hat 110 000 ungelesene Mails in der Inbox und keine Chance, diese jemals durchzuackern. Frei nach Ernest Hemingway hat er die Kontrolle erst «schleichend, dann schlagartig» verloren.

Stark wachsend

Doch trotz der diversen Todesmeldungen weisen auch die globalen Mailstatistiken steil nach oben. 2015 gab es weltweit 2,6 Milliarden Nutzer, 2019 sollen es fast 3 Milliarden sein. So weist es der Mailreport des Marktforschungsunternehmens Radicati aus. Ob auch hierzulande das Volumen zunimmt, ist schwer zu sagen. Die Swisscom als eine der grössten Mailverarbeiterinnen der Schweiz kann keine Angaben zur Entwicklung hierzulande machen: «Wir messen die Entwicklung des Internetverkehrs insgesamt, nicht aber der einzelnen Anwendungen», sagt Mediensprecher Armin Schädeli.

Doch was sagen die Wachstumszahlen überhaupt aus? Wie trügerisch sie sind, darüber sind sich auch die Autoren der Radicati-Studie im Klaren: Wer sich im Netz bei einem Webdienst anmeldet, sich in einer App registriert oder Onlinebanking betreiben will, kommt um ein Mailkonto nicht herum. Es ist auch für Leute unverzichtbar, die ausschliesslich über Whatsapp und Snapchat kommunizieren.

Quittungen und Statusupdates

Das zunehmende Nachrichtenvolumen im privaten Bereich ist nicht Ausdruck von ungebrochener Kommunikationsfreude, sondern auf automatisch generierte Mitteilungen zurückzuführen: digitale Kaufquittungen, Hinweise auf Erwähnungen bei Facebook und Twitter, Sicherheitsmeldungen zu Logins und Kontozugriffen und Newsletter.

Es wächst also nicht der Anteil der persönlichen und engagierten Interaktion, sondern das belanglose Hintergrundrauschen – und das, obwohl die Spam-Epidemie der Nullerjahre erfolgreich zurückgedrängt werden konnte.

Gemäss Sicherheitsexperte Brian Krebs war der Höhepunkt der massenhaft versandten Werbemails im Jahr 2010 zu verzeichnen. Seitdem geht die Menge zurück. Doch der Versand von Botschaften im Graubereich zwischen Werbung und erwünschter Information nimmt zu. Der Dienst Unroll.me, der die Verwaltung von Newsletters übernimmt, hat in seinen «Spammy Awards 2016» die grössten Mailbox-Verstopfer gekürt. Das sind u. a. die Schnäppchen-Site Groupon, Facebook und der Unterwäscheverkäufer Victoria’s Secret.

Die Website Emailisnotdead.com hält tapfer das Fähnchen hoch und bekräftigt den bedeutenden Stellenwert in Marketing und Verkauf. Doch die Rolle als persönliches, manchmal sogar intimes Kommunikationsmedium, die es in der Pionierphase innehatte – die ist bei irgendeiner Spam-Epidemie oder Newsletter-Flut verloren gegangen.

Jugendliche kommunizieren in Echtzeit – da kommt das E-Mail nicht mehr mit. Foto: Esther Michel

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 15. Februar 2017

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