Das Smartphone, das auch ein PC sein will

Mit dem Lumia 950 versucht Windows einen Spagat – um Desktop-Rechner überflüssig zu machen. Das gelingt allerdings bloss halbwegs.

Matthias Schüssler

Dieser Tage lanciert Microsoft zwei neue Lumia-Modelle. Sie bringen das angestaubte Handy-Line-up auf den neuesten Stand. Und vor allem rufen sie in Erinnerung, dass Microsoft überhaupt noch eine Handysparte hat. Im Juli dieses ­Jahres hatte Konzernchef Satya Nadella die im September 2013 von Nokia übernommene Abteilung annähernd auf null abgeschrieben. Sagenhafte 7,6 Milliarden US-Dollar und noch einmal 7800 Stellen hatte das gekostet. Nadella hatte sich damals so geäussert, er wolle nicht das Handtuch werfen, aber ein «effektiveres und fokussierteres Telefon-Portfolio pflegen».

Das heisst: weniger Modelle, dafür solche, die Microsofts Vorzüge optimal zur Geltung bringen. Der grösste Vorzug ist die enge Bindung an die Windows-Plattform: Das neue Lumia 950 mit 5,2-Zoll-Bildschirm und das Lumia 950 XL mit 5,7-Zoll-Display verwenden Windows 10 Mobile. Dieses Betriebssystem ist zwar nicht identisch mit Windows 10 für Computer und Laptops, aber näher verwandt als der Vorgänger namens Windows Phone: Es gibt einen gemeinsamen App-Store, und Entwickler haben es einfacher, ihre Programme aufs Telefon zu bringen. Die (in der Schweiz bislang nicht verfügbare) digitale Assistentin Cortana verrichtet ihren Dienst auf allen Gerätegrössen.

Eine Neuerung versinnbildlicht das Näherrücken von PC und Mobilgerät. Sie heisst Continuum und verspricht nichts weniger als den Spagat zwischen dem ganz grossen und dem ganz kleinen Bildschirm: Mit angeschlossener Maus, Tastatur und dem externen Bildschirm «fühlt sich das Telefon wie ein richtiger PC an», verspricht Microsoft. Und das impliziert die Frage, ob man noch einen PC braucht, wo das Smartphone inzwischen leistungsfähig genug ist, um auch diesen Part zu übernehmen.

Das Handy am grossen Monitor

Der Anschluss an einen grossen Bildschirm kann drahtlos über das Miracast-Protokoll erfolgen. Will man das Handy anstelle eines Desktop-PC nutzen, dann kommt das Display-Dock zum Einsatz: Es dient, via USB-C, auch als Ladestation fürs Telefon. Das Dock hat seinerseits Anschlüsse für USB, HDMI und DisplayPort und stellt die Verbindung zum Monitor, zur Maus und Tastatur her. Sobald die Verbindung steht, erscheint erst ein Werbevideo, dann das aus Windows 10 bekannte Startmenü. Die Continuum-App kann als Touchpad fungieren, sodass man sein Telefon auch steuern kann, wenn etwa für eine ­Präsentation keine Maus und Tastatur angeschlossen sind.

Es gibt die Möglichkeit, auf dem Telefon und dem grossen Bildschirm separate Apps anzuzeigen und eine Website offen zu haben, während man in der Textverarbeitung schreibt. Es existieren Apps mit speziellen Continuum-Fähigkeiten: Powerpoint zeigt im Präsenta­tionsmodus am grossen Bildschirm die Folie, während am Handydisplay zusätzlich die Notizen zu sehen sind.

Eingeschränkte App-Auswahl

Ist Continuum tatsächlich das perfekte Universalgerät, das als Smartphone auch gleich den PC überflüssig macht? Bislang leider nicht. Die mobilen Prozessoren bringen nicht die Leistung eines vollwertigen PC. Man ist bei den Anwendungen eingeschränkt: Die mobile Version von Windows 10 führt nur Apps aus dem Store aus – und auch nur solche, die für Continuum angepasst wurden. Klassische Windows-Programme werden nicht ausgeführt.

Fazit: Für Privatanwender, die auf den PC verzichten möchten, ist ein Laptop oder Tablet die simplere Lösung. Die lassen sich leicht verräumen, während Bildschirm, Tastatur und Maus weiterhin Platz auf dem Schreibtisch beanspruchen. Continuum ist für geschäftliche Anwender interessant, die ihre Arbeit mit Apps aus dem Fundus des Windows-Store bestreiten können. Der kann bislang aber weder mit der Vielfalt klassischer Windows-Programme mithalten, noch hält er dem Vergleich mit den ­Stores von Apple und Google stand.

Die grösste Chance wäre bei den Cloudverweigerern zu finden: Die könnten auf dem Telefon ihren Daten­bestand mit sich führen und hätten alle Dokumente sowohl stationär als auch mobil zur Verfügung. Allerdings ist Windows 10 sehr eng mit Microsofts Clouddiensten verwoben, und auch die Kontroverse über die vermeintlichen Lücken beim Schutz der Privatsphäre sind keine Empfehlung zuhanden der cloudskep­tischen Klientel. So bleibt Continuum eine zwar interessante Funktion, die bislang abseits der Präsentationsmöglichkeiten aber nur einen beschränkten ­Praxisnutzen hat.

Das Lumia 950 und das Lumia 950 XL sind solide Weiterentwicklungen, die im Android- und iPhone-Lager aber dennoch keine Beachtung finden werden – daran ändert auch das Highlight des Geräts, die tolle Kamera mit ihren 20 Megapixeln, nichts. Windows 10 macht auf dem Telefon einen unfertigen Eindruck und ist absturzgefährdet. Die biomet­rische Authentifizierungsfunktion namens Windows Hello – explizit als Beta bezeichnet –, die eine Entsperrung über einen Iris-Scan ermöglichen sollte, hat sich im Test als nicht praxistauglich erwiesen. Im Vergleich zum blitzschnellen und inzwischen sehr zuverlässigen Fingerabdruck-Sensor des iPhones sieht Microsoft da ein bisschen alt aus.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 9. Dezember 2015

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