In der digitalen Zweierkiste

Mit Technik Nähe zu simulieren – ist das kompletter Unfug? Oder ist die App, die echte Intimität ermöglicht, die nächste Multimilliarden-Dollar-Idee?

Matthias Schüssler

Wir Computerfreaks sind für viele Dinge offen: Wir glauben, dass unsere Lebenserwartung steigt, wenn wir ein Fitnessgadget mit uns tragen, das jedes Schrittchen zählt. Wir sichern unseren Lebensabend mit Bitcoin-Rücklagen ab. Und wir sind der festen Überzeugung, dass Kartoffeln besonders gut schmecken, wenn sie in einem mit Bluetooth aus­gestatteten Topf gegart wurden.

Es gibt aber auch digitale Erscheinungen, deren Sinn und Zweck sich dem technikverliebten Teil der Bevölkerung entzieht. Die selbst wir, die wir sonst jeden neumodischen Quatsch mitmachen, als Unfug abstempeln müssen – so überflüssig wie der Turboknopf an den alten PCs. Die Scroll-Lock-Taste auf der IBM-kompatiblen Tastatur.

Als Unfug sondergleichen erscheint uns bei der viel beworbenen Apple Watch die Möglichkeit, seinen Herzschlag zu übertragen: «Wenn du zwei Finger auf das Display drückst, zeichnet der integrierte Herzfrequenzsensor ­deinen Herzschlag auf und sendet ihn weiter. So einfach kannst du jemandem ­mitteilen, was du fühlst», beschreibt ­Apple diese Funktion.

Warum Emojis so beliebt sind

Eine dysfunktionale Botschaft: Denn ob der Herzschlag nun rast, weil man sich vor Verlangen verzehrt oder sich gerade fürchterlich darüber aufregt, dass im Kühlschrank wieder die Milch fehlt, lässt sich daraus nicht ableiten. Da wäre eine Übertragung der Magengeräusche wahrscheinlich von grösserer Aussagekraft. Das laute, ungehaltene Rumpeln heisst: «Du, das Chili con Carne, das du gestern gekocht hast – das liegt mir wahnsinnig schwer auf.»

Aber vielleicht entgeht uns Computernerds da ein echtes Bedürfnis. Vielleicht ist diese Herzschlagübertragung doch mehr als ein charmantes Gimmick, das den Kauf einer Hightechuhr rechtfertigen soll. Vielleicht fehlen uns tatsächlich die elektronischen Kommunikationsmittel und -wege, die so persönlich sind wie ein tiefer, gegenseitiger Blick in die Augen. Und so unmittelbar wie eine kurze Umarmung unter der Haustür. Warum sonst sind die Emojis so beliebt? Das vor Lachen weinende ­Gesicht, die Herzchen und Küsschen, die per Whatsapp und andere Dienste milliardenfach verschickt werden – sie stehen für Botschaften, die emotional wirken und bei denen man wenig oder gar nichts schreiben beziehungsweise lesen muss.

Daher rührt wohl auch das Anstupsen bei Facebook. Da wird nichts Weltbewegendes kommuniziert. Es geht um die Kontaktaufnahme an sich, um ein kurzes «Ich denke an dich». Die Yo-App – die letztes Jahr mit 1,5 Millionen US-Dollar finanziert wurde – macht nichts anderes, als ein kumpeliges «Yo» zu übermitteln. In Deutsch würde man wohl so viel wie «Hey, Alter!» sagen.

Intime, nonverbale Kommunikation – das ist auch die Domäne von Snapchat. Man übermittelt mit dieser App Bilder, die nur Sekunden sichtbar sind und sich dann in Nichts auflösen. Das Misstrauen infolge von Sicherheitslücken und die Debatte um Sexting bei Jugendlichen haben davon abgelenkt, dass die App ein echtes und legitimes Anliegen erfüllt. «Sie erlaubt es, ein Gefühl der Verletzlichkeit zu empfinden, für das bei grösseren sozialen Netzwerken kein Raum ist», hiess es in einer Untersuchung zu Snapchat. Fehler und emotionale Risiken liegen drin – anders als bei Facebook, wo man sich zu schnell blamiert.

Ist es sinnlos, mit Technologie echte Nähe simulieren zu wollen? Versuche gibt es zuhauf: Avocado, Couple, Between, The Icebreak oder Twyxt sind alles Apps, mit denen Pärchen die virtuelle Zweisamkeit zelebrieren. Etwa über den «Daumenkuss»: Beide drücken bei der Couple-App ihren Daumen aufs Display, und sobald sie überlappen, vibriert das Telefon. Bei Avocado sendet man eine Umarmung, indem man das Telefon an seine Brust drückt – und digitale Küsse, indem man das Bild des Partners antippt. Das ist, man muss es sagen, mehr als dürftiger Ersatz für echte Nähe. Eins ist jedoch klar: Die App, die Distanzen gefühlsecht überbrückt, die hat den App-Store-Jackpot geknackt.

Geht das irgendwann auch digital? Foto: André Schuster (Plainpicture)

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 15. Juli 2015

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