Bruderzwist bei Wikipedia

Matthias Schüssler

Die Digitale Allmend verfolgt ähnliche Ziele wie das Onlinelexikon. Trotzdem soll der Beitrag über den Schweizer Verein nun gelöscht werden.

Der Schweizer Verein Digitale Allmend setzt sich seit 2006 für eine offene Wissensgesellschaft und für eine Förderung gemeinfreier Werke ein. Er beteiligt sich an der Diskussion um die Revision des Schweizer Urheberrechts. Der Verein trägt mit seinen Veranstaltungen einen wichtigen Teil zu den netzpolitischen Debatten in der Schweiz bei und ist auch zu einer Anlaufstelle für Medienschaffende geworden.

Wikipedia seinerseits erachtet den Verein nun nicht als wichtig genug, um ihm einen Eintrag im Onlinelexikon zuzugestehen. Der Artikel zur Digitalen Allmend ist seit gestern zur Löschung markiert. User «Schnabeltassentier» hat die Markierung mit der Begründung veranlasst, die Relevanz sei nicht dargestellt.

Martin Steiger ist Anwalt und Mitglied im Verein, und er kann die Löschdiskussion nicht nachvollziehen: «Aus unserer Sicht ist die Digitale Allmend genügend relevant, um einen eigenen Wikipedia-Artikel haben zu dürfen. Der Verein ist die Hüterin der Creative Commons in der Schweiz. Das ist die freie Lizenzform, die für Wikipedia eine zentrale Grundlage bildet. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn Wikipedia den Beitrag nun löschen will.»

Patrick Kenel ist Präsident und Pressesprecher von Wikimedia, dem Schweizer Förderverein von Wikipedia. Er anerkennt die gemeinsamen Interessen und wirft ein, die beiden Vereine hätten sogar das gleiche Gründungsjahr. Kenel weist darauf hin, dass die Löschdiskussion nicht abgeschlossen sei. Typischerweise dauert sie eine Woche, manchmal länger, und am Ende wird entschieden, ob ein Artikel beibehalten oder gelöscht wird. Im Fall der Digitalen Allmend könnte sich Kenel gut vorstellen, dass der Artikel die Löschdiskussion übersteht.

Heftige Löschdebatten

Die Löschdebatten werden bei der deutschsprachigen Wikipedia heftiger geführt als bei anderen Sprachversionen. Patrick Kenel sagt, sie seien gerade bei neuen Artikeln häufig. «Es gibt weit über eine Million Artikel in Deutsch, und es kommen immer wieder neue Beiträge dazu. Da braucht es sehr viel Arbeit und Aufwand, um sicherzustellen, dass der neutrale Standpunkt eingehalten ist und die Beiträge aktuell gehalten sind.»

Die Löschung der irrelevanten Artikel soll Raum für die Qualitätssicherung bei den relevanten Themen schaffen. Viele Beiträge aus thematischen Nischen seien in einem Spezial-Wiki besser aufgehoben, sagt Kenel. Das sei mit der freien Lizenz kein Problem. So könnten beispielsweise Beiträge über Fernsehserien oder -Stars in Fan-Wikis ausgelagert werden. Diese achten weniger auf Sachlichkeit und Objektivität als die Wikipedia, die die Tradition der Allgemeinenzyklopädie im digitalen Zeitalter weiterführen möchte.

Das Argument der Qualitätssicherung zweifelt Martin Steiger gleich doppelt an. Erstens, weil er das Relevanzverfahren an sich infrage stellt: «Irgendein Nutzer, von dem nicht bekannt ist, wer er ist und was für einen Background er hat, ist der Meinung, die Digitale Allmend sei nicht relevant für die deutschsprachige Wikipedia. Dann beginnt ein undurchschaubares Prozedere. Man sagt, es sei eine Community, die das entscheide. Aber in Wirklichkeit sind das ein paar wenige Leute – nämlich die, die Zeit haben, sich damit abzugeben.»

Diplomatie und dicke Haut

Zweitens habe sich Wikipedia auch vom Anspruch der Qualitätssicherung schon längst verabschiedet. «Es gibt zu wenige Leute, um die Qualität in der deutschsprachigen Wikipedia sicherzustellen», sagt Martin Steiger. «Es gibt auch Projekte, um neue Leute zu rekrutieren und zu mobilisieren. Die Benutzeroberfläche und der Editor sind etwas besser geworden. Aber wenn Leute, die mitmachen möchten, nicht an die Hand genommen werden und motiviert werden, dann bringt das alles nichts.»

Auch Patrick Kenel meint, es wäre für die deutschsprachige Wikipedia hilfreich, wenn sich mehr Administratoren für das Lexikon einsetzen würden – wobei die oberste Fähigkeit eine diplomatische Ader sei. Auch sei es durchaus möglich, über die Plattform der Meinungsbilder neue, für möglichst viele Nutzer zufriedenstellende Richtlinien zu finden.

Die wegen des Artikels zur Digitalen Allmend neu aufgeflammte Auseinandersetzung um den richtigen Weg bei Wikipedia zeigt verhärtete Fronten: Patrick Kenel räumt ein, es sei nicht ideal, wenn jemand die Löschdiskussion verpasse und dann einen Artikel nicht mehr finde. «Aber so ist das Vorgehen. Und das ist seit über zehn Jahren so. Ich wüsste nicht, wie man das verbessern könnte.»

Steiger ortet eine Blockwart-Mentalität bei den Administratoren, die alte Hasen vertreibe, Neulinge abschrecke und nicht in den digitalen Raum passe: «Das knabbert am Fundament von Wikipedia, und zwar schon seit Jahren. Eigentlich müsste das Ziel sein, dass Leute, die über ein Thema Bescheid wissen, dort mitmachen. Die Erfahrung ist, dass Leute, die bei Wikipedia mitmachen wollen, eine dicke Haut brauchen.»

Löschen Administratoren bei Wikipedia zu viel? Eine alte Debatte flammt neu auf. Bild: Gary Cameron/Reuters

Was ist relevant?

Wikipedia will kein Telefonbuch oder Branchenverzeichnis sein. Deswegen gelten strenge Relevanzkriterien.

Wikipedia will kein Telefonbuch und kein Firmen-, Vereins- oder Personenverzeichnis sein. Deswegen wird verlangt, dass Unternehmen mindestens 1000 Vollzeitmitarbeiter haben oder einen Jahresumsatz von 100 Millionen Euro oder mehr erzielen. Relevante Vereine haben überregionale Bedeutung und geniessen mediale Aufmerksamkeit. Personen werden nur dann auf Wikipedia besprochen, wenn sie in einem anerkannten Verzeichnis wie dem biografischen Munzinger-Archiv vertreten sind.

Auch für Journalisten gelten (zum Leidwesen mancher Kollegen) strenge Regeln: So müssen sie bei einem relevanten Medium als Chefredaktor oder leitender Redaktor gedient oder einen relevanten Journalistenpreis erhalten haben.

Diese Kriterien sind im Einzelfall schwierig in der Anwendung und nicht unbestritten. Deswegen gibt es diverse Projekte im Web, die sich gelöschter Wikipedia-Artikel annehmen und diese wiederauferstehen lassen: Deletionpedia.dbatley.com und s23.org. (schü.)

Patrick Kenel ist Präsident von Wikimedia Schweiz und sagt, der Umgang mit den Relevanzkriterien habe sich seit mehr als zehn Jahren bewährt.

Martin Steiger ist Rechtsanwalt und Mitglied bei der digitalen Allmend. Er ortet Blockwart-Mentalität bei den Administratoren.

Quelle: Newsnetz, Montag, 8. Juni 2015

Rubrik und Tags:

Metadaten
Thema: Newsnetz
Nr: 13115
Ausgabe:
Anzahl Subthemen: 1

Obsolete Datenfelder
Bilder:
Textlänge:
Ort:
Tabb: FALSCH