Streaming allein macht nicht glücklich

Spotify und ähnliche Dienste haben CDs fast überflüssig gemacht und die Plattensammlung zum Verschwinden gebracht. Das muss man als Musikfan bedauern. Eine Selbstanalyse von Matthias Schüssler

Wenn Musikfans von schwarzem Gold sprechen, dann meinen sie ihre Plattensammlung – nicht CDs oder MP3-Dateien, sondern das gute alte Vinyl. Die über Jahre zusammengetragenen Schätze haben auf jeden Fall einen ideellen Wert. Originalpressungen und Raritäten verleihen der Sammlung auch einen reellen Wert. Ein Autor der «Frankfurter Allgemeine Zeitung» hat vor einiger Zeit ein Experiment gewagt und seine Platten von einem Finanz­experten schätzen lassen. Resultat: eine Rendite von 1,943 Prozent pro Jahr.

Tempi passati. Das Musikstreaming bringt es mit sich, dass man Musik nicht mehr sorgsam auswählt. Stattdessen surft man nach Lust und Laune durch das immense Angebot. Vorlieben tut man kund, indem man Sternchen vergibt, Favoriten kürt und (vielleicht) die eine oder andere Wiedergabeliste zusammenstellt. Die Plattensammlung scheint höchstens noch als Geldanlage interessant. Als Gebrauchsgegenstand hat sie offensichtlich ausgedient. Das Streaming hat im Frühling 2015 nämlich umsatzmässig die CD überholt. Die Zahlen bei der online gekauften Musik sind rückläufig. In Apples iTunes Store gingen laut «Wall Street Journal» die Verkäufe für 2014 um 14 Prozent zurück.

Dabei war die Plattensammlung einst eine Verlängerung der Persönlichkeit. Ob Beatles oder Rolling Stones – beziehungsweise Prince oder Michael Jackson – im Regal standen, war Ausdruck einer Lebenshaltung. In meinem Fall gibt es, aus Platzgründen ausgelagert in den Keller meiner Eltern, eine Kollektion von Langspielplatten aus den Achtzigern. Ein Monument der popkulturellen Identitätsfindung meiner Teeniejahre.

Meine CDs aus den zwei nachfolgenden Jahrzehnten sind längst entsorgt. Die Musik hat ihren Weg in eine sorgsam gepflegte iTunes-Mediathek gefunden – wo ich in tagelanger Kleinarbeit Coverbilder abgelegt, Erscheinungsjahre und Komponistennamen nachgetragen und den Versuch einer stimmigen Genre-Einteilung unternommen habe.

Seit drei Jahren verkümmert diese Musiksammlung. Schuld ist Spotify. Der Streamingdienst hat mein Konsumverhalten nachhaltig verändert – Kulturpessimisten würden sagen: zerstört. Das quasi unbeschränkte Angebot lockt mit immer neuen Entdeckungen. Unzählige Playlists von Freunden und Fremden zu Stimmungen, Anlässen, Genres und Aktivitäten laden dazu ein, von Song zu Song zu hüpfen, wobei beim Musik­surfen viele Stücke nur kurz angespielt, aber nicht zu Ende gehört werden. Mein Konsum ist vielfältiger geworden. Und oberflächlicher.

Das Sammeln, Horten und Besitzen bleibt einem mit den Internetdiensten erspart. Bei der Musik ist das ein Verlust. Es fällt ein Stück emotionaler Bindung zu den Lieblingskünstlern und ihren Werken weg. Dem Spotify-Lifestyle fehlt es am Charme der abgegriffenen Albumcovers und vom vielen Hören knisterig gespielten Langspielplatten.

Noch schlimmer: Es kommt vor, dass Künstler aus dem Repertoire verschwinden. Taylor Swift zog sich im letzten November mit viel Getöse von Spotify zurück. Für mich kein Problem, doch im Soundtrack von vielen anderen Leuten hat dieser Boykott eine Lücke hinterlassen. Sollte man auf die Idee kommen, den Streamingdienst zu wechseln, gehen Hör-Historie, Favoriten und die Wiedergabelisten verloren. Wer Musik wie Fastfood konsumiert, dem ist das egal. Für den Connaisseur ist es ein Identitätsverlust.

Die Plattensammlung aus dem Keller meiner Eltern zu holen und das Spotify-Abo zu künden, habe ich mir verkniffen. Was ich hingegen tue: Ich kaufe mir grossartige Alben wie Eddie Vedders «Into the Wild» oder Leonard Cohens «Popular Problems» und höre mir diese von hinten bis vorne durch. Als ob das Internet nie erfunden worden wäre.

Die Plattensammlung scheint allenfalls noch als Geldanlage interessant, als Gebrauchsgegenstand hat sie ausgedient. Foto: Getty Images

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 22. April 2015

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