Der Browser, der aus der Kälte kommt

In Island entsteht ein Websurfprogramm für Power-User. Es stammt vom Vater des Opera-Browsers, der seit 20 Jahren seine Softwarevision verfolgt.

Jon von Tetzchner ist ein Mann, der seine Vorstellung vom idealen Browser mit einer Hartnäckigkeit verfolgt, die manche als Sturheit bezeichnen würden. 1994 hatte er zusammen mit zwei Mitstreitern die Idee eines schnellen, leichtgewichtigen Browsers, der sich flexibel den Bedürfnissen des Benutzers anpassen würde: der Opera-Browser. Er nahm seinen Anfang als Projekt in der Forschungsabteilung des norwegischen Telecomunternehmens Telenor. Schon bald wurde er in eine eigene Firma ausgegliedert und von den drei Pionieren weiterentwickelt. Die erste Version wurde 1996 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Er gehört mit dem Internet Explorer zu den dienstältesten Browsern. Apple Safari, Firefox und Google Chrome erschienen erst Jahre später (2003, 2004 und 2008).

Die Opera-Macher waren von Anfang an innovativ: Schon die erste Version konnte in einem Fenster mehrere Websites nebeneinander anzeigen. Das war aufgeräumter als die damals sonst übliche Darstellung mit einem Fenster pro Seite, die den Desktop sehr schnell unübersichtlich machte. Opera hat die Suche vereinfacht und konnte früher als die anderen Browser die Websites mit Bild und Schrift in der Grösse skalieren. Opera führte auch die Navigation über Mausgesten ein. Sie erlaubten es, mittels Schlenkern mit dem Cursor vor- und zurückzublättern. Der Browser aus Norwegen war vorbildlich, was das Löschen der Surf-Protokolldaten angeht. Ab 2005 gab es Opera in der «Mini»-Version für Mobiltelefone, Smartphones und PDAs. Um die Verbindungskosten zu reduzieren, wurde für Opera eine Komprimierungstechnologie entwickelt, die den Datenbedarf um bis zu 90 Prozent reduziert.

Grundlagen fürs Web

Der langjährige Opera-Technikchef ist schliesslich mitverantwortlich dafür, wie Websites heute mit Formatierungen umgehen: Håkon Wium Lie hat 1994 mit Tim Berners-Lee zusammengearbeitet und mit dem Erfinder des World Wide Web die Cascading Style Sheets (CSS) entworfen. Diese Technologie ermöglicht es bis heute, Inhalt und Form weitgehend zu trennen und Sites auf verschiedene Bildschirmgrössen anzupassen. Opera hat dank CSS äusserst flexible Mechanismen implementiert, mit denen sehbehinderte Webnutzer die Lesbarkeit von Internetseiten erheblich verbessern können.

Trotz dieser Vorreiterrolle hat es der Browser aus Norwegen nie über einen Marktanteil von ein bis vier Prozent hinausgeschafft. Gründe dafür gibt es mehrere. Die Opera-Macher haben sich stets gegen Softwarepatente gewehrt, weswegen die anderen Hersteller ihre Innovationen ungestraft übernehmen konnten. Opera hat anders als Google, Apple oder Microsoft keine Marketingmacht im Rücken und nicht die schillernde Vergangenheit von Firefox.

Mozillas Browser konnte von der Strahlkraft von Netscape und Marc Andreessen zehren, die die Anfänge des World Wide Web geprägt hatten. Opera litt unter Kompatibilitätsproblemen. Die Webentwickler nahmen auf den Browser mit dem kleinen Marktanteil kaum Rücksicht. Schliesslich hat Opera in den letzten Jahren zu wenig auf die Wünsche der Community gehört – so sieht es wenigstens Jon von Tetzchner, einer der Urväter von einst. Er ist 2011 aus dem von ihm gegründeten Unternehmen ausgetreten und in seine Heimat Island zurückgekehrt. Mit ehemaligen Opera-Mitarbeitern hat er ein Start-up auf den Weg gebracht, das die alte Vision wiederaufleben lassen soll.

Der neue Browser heisst Vivaldi und pflegt alte Stärken: Da sind die vielfältigen Konfigurationsmöglichkeiten der Oberfläche. Die Reiter müssen nicht wie bei den anderen Browsern oben an der Seite sitzen, sondern können auch rechts oder links angedockt werden. Sie treten wahlweise auch als grafische Miniaturansichten in Erscheinung.

Das «Stacking» von Reitern ist für Leute gedacht, die sehr viele Reiter offen haben. Die Steuerung per Tastatur ist so flexibel wie bei keinem anderen Browser sonst. Das Ziel ist, dass der Browser allein über die Tastatur benutzt werden kann. Dazu dienen die «Quick Commands», eine durchsuchbare Box mit allen Menübefehlen im Direktzugriff. In Anlehnung an die alten Suiten wie den Netscape Communicator hat Vivaldi auch ein Mailprogramm eingebaut.

Der Anwender steht im Zentrum

«Wir machen Browser für Power-User: solche Leute, die mehr erwarten, viel Zeit online verbringen und effizient sein wollen», sagte Jon von Tetzchner gegenüber dem TA. Ein Ziel bezüglich Marktanteilen hat er nicht: «Wir entwickeln einen Browser für uns und unsere Freunde. Es zeigt sich, dass viele Leute mögen, was wir tun – und das ist toll. Wir werden sehen, wohin uns das führt.»

Vivaldi ist im Moment in einer Testversion erhältlich, der noch viele Funktionen fehlen. Geplant ist unter anderem eine Synchronisationsfunktion zum Abgleich von Konfiguration, Lesezeichen und geöffneten Seiten über mehrere Geräte hinweg. Der Browser wird nicht von Grund auf entwickelt, sondern basiert wie bei modernen Browsern üblich auf einer Engine: Diese ist für das Rendering, die Umwandlung des Seitencodes in die Darstellung am Bildschirm, zuständig. Vivaldi nutzt die Engine Blink, sie kommt auch bei Google Chrome zum Einsatz.

Braucht die Welt noch einen Browser? Die Antwort ist ein klares Ja: Auch Leute, die nie von Opera gehört haben und Vivaldi nicht nutzen werden, profitieren von Leuten wie Jon von Tetzchner, die bei ihrer Entwicklung die Bedürfnisse der Anwender ins Zentrum stellen. Viele der von den Aussenseitern entwickelten Konzepte wurden von der Konkurrenz aufgenommen und sind heute Allgemeingut. Für die Nutzer ist es ein Vorteil, ein Produkt zur Auswahl zu haben, das nicht von der Vermarktungsmentalität des Silicon Valley geprägt ist.

Interview Jon von Tetzchner über seinen Browser
vivaldi.tagesanzeiger.ch

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 11. März 2015

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