«Serial»

Ein Podcast mit den Qualitäten eines Hörspiels

Ein 16 Jahre alter Mordfall bricht alle Rekorde – und zeigt neue Erzählformen auf.

Matthias Schüssler

Podcasts sind typischerweise schnell produziert und formal wenig experimentierfreudig: Es dominieren die Gesprächsrunden oft in mehr oder weniger fixen Panels und Interviews. Die Sendungen werden in aller Regel integral aufgezeichnet und nur spärlich nach­bearbeitet. Aufwendigere Produktionen, die mit Reportage- oder Feature-Elementen arbeiten, sind eher selten – dabei wäre genau das eine grosse Chance für das junge Medium.

Das bewies auf eindrückliche Weise der «Serial»-Podcast. Er schlug auf ­iTunes alle bisherigen Rekorde. Er hat innert Kürze die Grenze von 5 Millionen Downloads überschritten und es auch in diversen nicht englischsprachigen Ländern auf Platz eins geschafft. Inzwischen streiten sich mehrere Produktionsgesellschaften um die Fernsehrechte. Für die Ausstrahlung interessiert sich offenbar auch der Bezahlsender HBO.

«Serial» wagt das Experiment, eine Geschichte mit offenem Ausgang über zwölf Folgen zu erzählen. Wie die Recherche enden wird, steht am Anfang nicht fest, und nach und nach fliessen auch Reaktionen der Hörer in die Erzählung mit ein. Die Autorin Sarah Koenig verdichtet Ausschnitte aus Interviews, Originalaufzeichnungen aus Polizeivernehmungen und Gerichtsverhandlungen auf hörspielartige Weise. Der Podcast hat sogar seine eigene Themenmusik. Und mit der Stimme Koenigs eine engagierte Erzählerin.

Das Leben ist kein «CSI»

Der Podcast erzählt die Geschichte einer Kriminalrecherche: Die Highschool­studentin Hae Min Lee aus Baltimore verschwindet Anfang 1999 nach der Schule spurlos und wird einen knappen Monat später in einem Stadtpark tot aufgefunden.

Ins Visier der Ermittlungen gerät ihr Ex-Freund Adnan Syed, der in einem ­anonymen Anruf an die Polizei belastet wird. Der Verdacht verdichtet sich, als Jay, ein Freund von Adnan, aussagt, er habe ihm bei der Beseitigung der Leiche geholfen. Darauf wird Adnan verhaftet und ein gutes Jahr später von einem ­Geschworenengericht zu lebenslanger Haft verurteilt – trotz vieler Un­gereimtheiten bei der Chronologie des Falls und den Aussagen des Hauptbelastungszeugen.

Die Stärke des Podcasts ist die Art und Weise, wie Sarah Koenig den Hörer an der emotionalen Achterbahnfahrt ­ihrer Recherche beteiligt, bei der sie zwischen dem Glaube an Syeds Unschuld und den nagenden Zweifeln pendelt. Ausserdem führt «Serial» vor Augen, dass das wahre Leben kein «CSI»-Fall ist. Da bleiben wichtige Spuren unanalysiert und viele Fragen ungeklärt. Die Polizei ermittelt so lange, bis genügend Material vorhanden ist, um den Fall vor Gericht verhandeln zu können.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 4. Februar 2015

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