Netflix wird die Sehgewohnheiten revolutionieren

Matthias Schüssler

Der US-Streamingdienst Netflix hat das Potenzial, auch in der Schweiz das lineare Fernsehen in Bedrängnis zu bringen.

Christian Schmid verfolgt die Schweizer Fernsehszene seit Jahren als Blogger Digichris und dämpft die hochfliegenden Erwartungen erst einmal: «Wenn ich höre, dass manche schon die Billag abschaffen und ihren Fernseher entsorgen wollen, dann ist das übertrieben.» Schmid hat Netflix USA bereits getestet und sagt, er habe sich als ersten Film «The Money Pit» angesehen. In Deutsch heisst der «Geschenkt ist noch zu teuer» – eine nicht allzu tiefschürfende Komödie aus dem Jahr 1986, in der Tom Hanks einen seiner ersten grossen Hollywood-Auftritte hatte.

Keine taufrische Ware also. «Netflix ist eine Alternative für den Regensonntag: Unterhaltung, wenn im Fernsehen sonst nichts läuft und man keine Lust auf die x-te Wiederholung von ‹Navy CIS› oder ‹Big Bang Theory› hat.» Netflix und der vor kurzem von der UPC-Cablecom lancierte Dienst My Prime dürften erst einmal die «Abnudelstationen» in Bedrängnis bringen – also diejenigen Fernsehsender, die Archivware en gros versenden. Der Telecomexperte Ralf Beyeler wies in einem Artikel von Tagesanzeiger/Newsnetz darauf hin, dass die Fernsehnutzung traditionell konservativ ausfällt: «Ein grosser Teil der Fernsehzuschauer sind nach wie vor die Sofanutzer. Diese Leute kommen nach Hause, setzen sich auf die Couch und zappen durch die Sender, bis sie etwas gefunden haben, von dem sie sich be­rieseln lassen können.»

Keine Universal-Videothek

Mit prestigeträchtigen Eigenproduktionen und grossen Events werden die Fernsehstationen die Zuschauer weiterhin binden und auch zum Livezuschauen bewegen können – Publikum-Votings in den Castingshows und Social-Media-Happenings wie der «Tatort» werden die Trümpfe gegen das Streaming zur Flatrate sein. Die Streaminganbieter haben ihrerseits mit der schwierigen Situation zu kämpfen, dass Lizenzen pro Land und Sprachregionen ausgehandelt werden müssen und oft auch exklusiv vergeben werden. Es wird so schnell also keinen Dienst geben, der dem Anspruch an eine Universal-Videothek gerecht werden könnte.

Disruptive Kraft

Mittelfristig darf die disruptive Kraft von Netflix nicht unterschätzt werden. Netflix hat in den USA die Fernsehlandschaft nachhaltig verändert. Wie «Business-Insiders» berichtet, erhöht ein Netflix-Abo die Wahrscheinlichkeit massiv, dass ein US-Haushalt sein Abo fürs Kabelfernsehen kündigt. Generell sind sinkende Einschaltquoten zu beobachten. Es sei ein historischer Wandel im Gang. Die Leute schauen kein Fernsehen mehr, sondern Video. Und zwar immer häufiger auch auf Smartphones und Tablets, analysiert das Wirtschaftsportal die Situation. Die Zahl der fernsehenden US-Haushalte ist inzwischen sinkend, obwohl die absolute Zahl weiter zunimmt.

Am Erfolg von Netflix ist auch der Streit um die Netzneutralität wieder aufgeflammt. Der US-Internetprovider Comcast war im Februar in die Kritik geraten, weil seine Kunden einen markanten Rückgang beim Netflix-Datenverkehr beobachtet hatten. Die Vermutung stand im Raum, Comcast würde die Übertragung mit Absicht bremsen und damit die Forderung nach der Netzneutralität verletzen. Sie besagt, dass Provider alle Daten gleich behandeln müssen. Comcast ist dabei, den Kabelnetzbetreiber Time Warner Cable zu übernehmen. Gleichzeitig ist Comcast auch Lieferant für Netflix, beispielsweise über das Filmstudio Universal Pictures.

Netzneutralität in Gefahr

Netflix und Comcast haben sich im Februar in einem Abkommen darauf geeinigt, dass der Videodienst dem Provider für eine direkte Anbindung «mehrere Millionen US-Dollar pro Jahr» überweist (New York Times).

Ist das wirklich als Verletzung der Netzneutralität anzusehen, wenn Netflix an Comcast Geld überweist, oder ist das im Sinn einer besseren Anbindung zu rechtfertigen? Netzneutralitätsexperte Simon Schlauri beurteilt das wie folgt: «Nicht das Überweisen von Geld ist die Verletzung der Netzneutralität, sondern das, was vorher passiert ist: Die Daten von Netflix wurden immer langsamer durchgeleitet. So hat man sie gezwungen, für die schnellere Durchleitung Geld zu bezahlen. Darin liegt die Verletzung der Netzneutralität.» Da sich nur die grossen Anbieter solche direkten Verhandlungen überhaupt leisten können, werden die kleinen, innovativen Anbieter benachteiligt. Schlauri plädiert daher dafür, dass die Konsumenten, die den Datenverkehr verursachen, ihn auch zahlen müssen – sprich, dass die Kosten fürs Internetabo für die intensiven Netflix-Nutzer steigen.

Der Videostreamingdienst erzeugt zu Spitzenzeiten ein Drittel des US-amerikanischen Internetverkehrs und bestreitet zusammen mit Youtube mehr als die Hälfte des Datenaufkommens. Die Provider müssen dieser Last gewachsen sein und denken darum auch über eine Deckelung der Datenvolumina für Internetanschlüsse nach. Das könnte die Expansion von Netflix bremsen und auch die Attraktivität für noch hochauflösendere Inhalte (4k) schmälern. Auch das dürften aber nur mittelfristige Hürden sein – wenn die Bandbreite so wächst wie bisher, werden die Flaschenhälse quasi automatisch verschwinden.

Quelle: Newsnetz, Donnerstag, 18. September 2014

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