Zuschauen ist nicht so anstrengend

Matthias Schüssler

Digitalredaktor Matthias Schüssler will in einem Selbstversuch herausfinden, was daran interessant sein soll, anderen Leuten via Internet beim Computergamen zuzusehen.

Vlambeer spielt «Nuclear Throne». In der Liveübertragung von Twitch.tv verfolge ich bildschirmfüllend das Geschehen in der Retro-Gamewelt. Der Spieler, ein bäriger Mann mit Wuschelfrisur, ist rechts unten in einem Fensterchen eingeblendet. Er zeigt nur wenig Mimik und legt während des Spiels auch mal längere Pausen ein. Trotzdem sind 1706 Zuschauer live mit dabei und verfolgen, wie Vlambeer seinen Gegner, eine Art Weltraumratte, die aus dunklen Gängen gekrochen kommt, niedermetzelt. «Ich brauche wirklich eine andere Sorte Munition», kommentiert Vlambeer. Während die Weltraumratten sterben, betrachte ich in dem kleinen, eingeblendeten Fensterchen die mit Kram vollgestopften Billy-Regale hinter Vlambeer, die von offenen Kartonschachteln gesäumt werden.

Warum bloss?

Ich versuche herauszufinden, warum Leute ihre Freizeit damit verbringen, anderen beim Spielen zuzusehen. Obwohl ich Nerd-Kultur und dem damit verbundenen atypischen Verhalten ansonsten überhaupt nicht abgeneigt bin, kann ich mir auf diese Frage absolut keinen Reim machen. Ich fühle mich wie ein Atheist in der Kirche. Oder meinetwegen wie Christoph Kolumbus, der in San Salvador anlandete und feststellen musste, eine komplett neue Welt entdeckt zu haben.

Während mich das Spielgeschehen bei «Nuclear Throne» weiterhin kalt lässt, widme ich mich der Kontemplation des Chaos in Vlambeers Rücken und fühle eine Mischung aus soziologischem Interesse an der real existierenden Gamer-Subkultur und unangenehmem Voyeurismus in mir aufsteigen. Glotze ich hier in das Wohnzimmer eines Game-Nerds – oder ist es doch nur eine sorgfältig inszenierte Kulisse? Denn wie erwähnt hat Vlambeer mehr Reichweite als ein lokaler Fernsehsender und durchaus ein Sendungsbewusstsein. Es erschallt ein dreckiges Lachen, nachdem alle Weltraumratten tot sind. «Die dramatische Musik gibt uns zu verstehen, dass wir am Ende angelangt sind», liefert er als trockenen Meta-Kommentar ab. Es erscheint eine Einblendung, die besagt, dass der «nuclear throne», der Atomthron, nicht erreicht wurde. «Heilige Scheisse, das Spiel hat mir heute so richtig den Arsch versohlt», ist das Fazit von Vlambeer. Im englischen Original hat er es noch etwas deftiger formuliert.

Ich werfe einen Blick auf die Profilseite von Vlambeer und erfahre, dass sich hinter dem Alias ein unabhängiges Entwicklerstudio aus Holland verbirgt. Wikipedia verrät mir ausserdem, dass «Nuclear Throne» von Vlambeer selbst entwickelt wurde. Ich komme zum Schluss, dass ich den Entwickler beim Spielen seines eigenen Games erlebt habe. Beim bärtigen Mann dürfte es sich um Rami Ismail gehandelt haben, der als Koryphäe unter den unabhängigen europäischen Entwicklern gilt. Seinem Spiel «Ridiculous Fishing» bin ich am iPhone bereits begegnet.

Schwindelerregendes Multitasking

Im Versuch, eine Antwort darauf zu finden, zappe ich weiter und lande bei HollieBB. Sie spielt «Minecraft». Das ist ein Titel, den ich auch kenne, obwohl ich mich nicht zu den eingefleischten Gamern zähle und schon gar kein Bedürfnis verspüre, öffentlich mein diesbezügliches Unvermögen zur Schau zu stellen. Die «Minecraft»-Welt besteht aus anachronistischen Klotzgrafiken und stellt den Spieler vor die Aufgabe, Ressourcen zu sammeln, aus Holz, Stein und Erz Werkzeuge herzustellen und sich des Nachts vor Zombies zu schützen. Das ist viel Arbeit – vielleicht schauen manche Leute ja deswegen lieber zu, als sich selbst abzurackern?

HollieBB interagiert während des Spiels gleichzeitig mit dem Chat und quasselt ohne Punkt und Komma. Bei so viel Multitasking wird mir schon vom Zuschauen schwindlig. Sie pflanzt Getreide, deckt ihren Schweinestall, erwähnt einen noch zu backenden Kürbiskuchen, schlachtet Hühner und erzählt gleichzeitig, dass sie eigentlich ein Logo fertigstellen müsste. Sie arbeitet offenbar für eine Grafikagentur.

Als die Sonne untergeht, findet sie ihren Heimweg nicht mehr. Ich wundere mich, weil ich dachte, dass so etwas nur mir als Anfänger passiert. Allerdings weiss sich HollieBB anders als ich in dieser Situation zu helfen. Sie gräbt sich in ein Loch ein und schützt sich so vor den Kreaturen der Nacht, die bald aus ihren Löchern kriechen und der Spielfigur nach dem Leben trachten. Während sie in ihrem Loch ausharrt und auf den Morgen wartet, gibt sie den Zuschauern Gelegenheit, um Fragen zu stellen.

Ich will wissen, was nun mit dem Kürbiskuchen sei. Sie sagt, der käme später dran. Schade – denn wenn sich mitten in der «Minecraft»-Klotzwelt plötzlich eine althergebrachte Koch- und Backsendung angebahnt hätte, dann hätte ich das nicht nur als charmant, sondern auch als beträchtliche Hilfe bei meiner Sinnsuche empfunden. Doch HollieBB ist bereits bei der übernächsten Frage. Die «Welche übermenschliche Fähigkeit sie gern hätte?» lautet. Sie hätte gern die Superkraft der Unsichtbarkeit, erfahre ich. Ausserdem, dass HollieBB 28 ist und sich in ihrer Rolle als Promi sonnt. Letzteres sagt sie zwar nicht, aber das wird aus der gönnerhaften Art und Weise klar, mit der sie jeden neuen Follower namentlich begrüsst. Das ist genauso, wie wenn Prinz William und Kate ein Bad in der Menge nehmen.

Ich erinnere mich, dass Podcast-Übervater Leo Laporte in seiner vorletzten «This Week in Tech»-Sendung erzählt hat, die Game-Übertragungen seien der einzige Medienkonsum, den sein Sohn noch pflegen wolle – mit Fernsehen müsse man ihm erst gar nicht mehr kommen. Ich bin nicht klüger und zappe weiter. GSL sind zwei Typen, die «Star Craft II» spielen. Das ist ein Echtzeit-Strategiespiel, das wie ein Fussballmatch kommentiert wird. Wenn die Feinde aufbranden, schwillt die Stimme. Das kenne ich von Beni Thurnheer. Fehlt nur noch Alain Sutter, der in der Spielpause mit Engelsgeduld erklärt, was uns Laien bezüglich der Taktik alles entgangen ist.

Danke, aber nein danke

«Mit 19 Hydras kann man auf dem dritten Ex (?) ordentlich Druck aufbauen», sagt der Kommentator von Take TV. Er spricht zwar Deutsch, aber ich verstehe kein Wort: «Sie pusht von oben, und Koloss muss mit seinem Slash Damage (?) aufpassen. Das könnte für Corruptor (?) gedacht sein und nicht für Night Damage (?).» Danke, aber nein danke.

Betty_efn_white spielt «Grand Theft Auto V», während er mit seinem Co-Moderator über dessen Scheidung spricht. LiquidRet spielt «Star Craft II» und sagt minutenlang kein Wort. Er blendet nicht nur sein Konterfei ein, sondern auch das Kamerabild seiner Finger, die blitzschnell über die Tastatur hüpfen. Und WaRLegenD erschüttert allfällige Geschlechterklischees: Sie ist eine hübsche junge Frau, die mit trockenen Bemerkungen Nazis niedersticht.

Ich bin am Ende meines Lateins, logge mich aus und teile meiner Umwelt mit, dass ich keine greifbaren Erkenntnisse gesammelt hätte. «Wen wundert das?», meint meine Frau. «Tennis und Formel 1 verstehst du ja auch nicht.»

Das Leben in «Minecraft» ist beschwerlich – da schaut man doch lieber nur zu.

Auch Frauen killen gerne Nazis.

Glotze ich hier in das Wohnzimmer eines Game-Nerds – oder ist es doch nur eine sorgfältig inszenierte Kulisse?

Über seine Scheidung sinnieren, während man «Grand Theft Auto» spielt.

Fast wie Fussball. Nur ohne Alain Sutter.

Tastaturakrobatik in atemberaubendem Tempo.

King Kenny bittet um Spenden und summt gedankenverloren zur Musik.

Quelle: Newsnetz, Montag, 26. Mai 2014

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