Wir zappen weiter

Das Internet hat in den USA einen eigentlichen Kampf um den TV-Bildschirm entfacht. Hierzulande werden die digitalen Möglichkeiten noch weniger genutzt. Das zeitversetzte Fernsehen ist allerdings auf dem Vormarsch.

Von Matthias Schüssler

Wer im analogen Zeitalter televisionäre Unterhaltung geniessen wollte, setzte sich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Das Signal kam analog übers Kabel oder via Hausantenne in die gute Stube. Wann welche Sendung zu sehen war, stand in der Programmzeitschrift.

Heute ist das Fernsehen digital – und die Sache etwas komplizierter. Programme gelangen nicht nur über Kabel, Satellit oder die Luft ins Haus, sondern auch via Internet. In den USA ist unter dem Schlagwort «cord cuttings» ein eigentlicher Kampf ums Wohnzimmer entbrannt. Immer mehr Fernsehzuschauer «kappen das Kabel», indem sie ihre Abos bei den Kabelanbietern kündigen und ihre audiovisuelle Unterhaltungskost über Streamingdienste wie Netflix oder Hulu beziehen. Eine letzte Woche veröffentlichte Studie besagt, dass die Zahl der Aussteiger in den vergangenen vier Jahren um 44 Prozent auf 7,6 Millionen Haushalte gestiegen ist.

Immer noch auf dem Sofa

Diese Aussteiger sparen viel Geld. Laut «New York Times» beläuft sich die Kabelrechnung des typischen US-Haushalts auf satte 90 Dollar pro Monat. Normalerweise müssen Angebote im Paket gebucht werden, sodass die Kunden auch für unerwünschte Sender zahlen. Über die Websites der Sender und Dienste wie Amazon Instant, Hulu oder iTunes lassen sich Sendungen einzeln oder als Staffelpass kaufen. Mit einer gewissen Verzögerung landen die Sendungen bei Diensten wie Netflix oder Hulu Plus, wo sie für eine Flatrate on Demand abrufbar sind.

Die Nase vorn haben die Kabelbetreiber nur noch beim Livesport: Die Spiele der Football- oder Basketballligen werden nur via Kabel übertragen. Umgekehrt locken inzwischen auch die Streaminganbieter mit exklusiven Inhalten. Die viel gerühmte Serie «House of Cards» mit Kevin Spacey wurde exklusiv für den Streaminganbieter Netflix produziert. Sie war auf herkömmlichem Weg nicht zu sehen. Im Kampf ums Wohnzimmer werden dabei auch immer neue Wege versucht: Streamingboxen wie Apple TV oder Amazons kürzlich lanciertes FireTV, Multimedia-Adapter wie Googles ChromeCast, Spielkonsolen wie die Xbox oder Playstation 4 – sie alle versuchen, den grossen Schirm in der guten Stube mit den Angeboten der jeweiligen Hersteller zu verbinden.

Ein Preis- und Verdrängungskampf zwischen Kabel und Internet wie in den USA findet hierzulande nicht statt. Das stellt der Telecomexperte von Comparis, Ralf Beyeler, fest: «Ein grosser Teil der Fernsehzuschauer sind nach wie vor die Sofa-nutzer. Diese Leute kommen nach Hause, setzen sich auf die Couch und zappen durch die Sender, bis sie etwas gefunden haben, von dem sie sich berieseln lassen können.»

Dafür braucht es das Internet nicht unbedingt. Fürs Basisangebot sei der digitale Kabelanschluss (DVB-C) nach wie vor die unkomplizierteste Wahl, sagt Beyeler. Seit UPC-Cablecom die Grundverschlüsselung bei 60 digitalen Sendern fallen liess, kann das Programm mit einem DVB-C-kompatiblen Fernseher empfangen werden, ohne dass eine Set-Top-Box oder eine komplizierte Installation nötig wären. Bei den Zusatzangeboten können die Drittanbieter aber durchaus punkten. Wer mehr Sender, flexible Aufzeichnungs- oder Downloadmöglichkeiten oder Video-on-Demand möchte, werde von Zattoo, Wilmaa, Teleboy oder einem der anderen Anbieter günstiger versorgt als vom Kabelnetzbetreiber, sagt Beyeler.

Smartes TV noch kaum genutzt

Diese Zusatzdienste lassen sich auf vielfältige Weise nutzen: am Tablet oder Smartphone via App, am PC oder Laptop im Browser oder über eine Streamingbox wie die kürzlich lancierte Wilmaa-Box. Vor der Anschaffung zusätzlicher Hardware empfiehlt Beyeler, die Smart-TV-Funktionen zu prüfen – denn viele Zuschauer wüssten noch nicht einmal, was ihr Fernseher von Haus aus alles kann. Viele moderne Fernsehgeräte lassen sich ans Internet anschliessen und eröffnen ohne Extra-Hardware einen Zugang zu Youtube und Video-on-Demand-Angeboten oder zu Informationsquellen wie dem kürzlich von SRF eingeführten HbbTV-Standard. Er stellt interaktive Zusatzinformationen zum laufenden Fernsehprogramm bereit.

Verändern die «smarten» Funktionen moderner Fernsehgeräte und Set-Top-Boxen die Nutzungsgewohnheiten der Zuschauer? Die kürzlich durch die deutschen Landesmedienanstalten veröffentlichte Studie «Wie smart ist die Konvergenz?» kommt zum Schluss, dass das kaum der Fall ist. Nur rund 11 Prozent der Haushalte verwendeten «wissentlich» ein Smart-TV-Gerät.

Das traditionelle Fernsehverhalten sei noch fest verankert: «Im Fernsehalltag schalten die meisten Teilnehmer zuerst das laufende Programm ein und zappen durch die Kanäle, trotz aller zusätzlichen Möglichkeiten ihrer Smart-TVs und Receiver», haben die Autoren der Studie festgestellt. Die nicht lineare Nutzung finde hingegen meist als im Voraus geplantes «Happening» statt – wenn man sich am Wochenende mit Partnern und Freunden für einen Film aus der Onlinevideothek treffe.

Dieser Erkenntnis widersprechen allerdings die Zahlen, die Mediensprecher Olaf Schulze zur Nutzung von Swisscom-TV kommuniziert: 30 Prozent aller Inhalte würden heute schon zeitversetzt konsumiert. So habe die Hälfte der Fernsehkunden die Replay-Funktion aktiviert.

Jede Viertelsekunde ein Klick

Mit ihr lassen sich verpasste Sendungen bis zu sieben Tage abrufen, ohne dass man sie vorgängig hätte aufnehmen müssen. «Die Kunden wollen schauen, was sie wollen, wann sie wollen und wo sie wollen – nicht nur am Fernseher, sondern auch am Smartphone oder PC», betont Schulze.

Dass sich die Sehgewohnheiten nur langsam verändern, bestätigt auch Beat Witschi, der Leiter des Multimediazentrums von SRF: «Trotzdem messen wir der zeitverschobenen Konsumation von SRF-Inhalten und dem Abrufen von On-Demand-Inhalten grosse Bedeutung zu. Heute wird bereits jede Viertelsekunde ein Livestream- oder On-Demand-Angebot von SRF gestartet.»

Beat Witschi geht davon aus, dass die nicht lineare Konsumation weiter zunehmen wird – zumal vor kurzem nun auch die urheberrechtlichen Modalitäten fürs Replay-TV geklärt werden konnten und diese über einen gemeinsamen Tarif der Verwertungsgesellschaften geregelt wurden.

Nur fürs Internet: Netflix lehrt mit der Serie «House of Cards» die Kabelbetreiber das Fürchten. Foto: Justin Green (Alamy)

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 28. April 2014

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