Das Leben ist ein Punktesammeln

Videogame-Mechanismen greifen auf die reale Welt über: «Gamification» belohnt Konsum, Kundentreue und konformes Verhalten.

Von Matthias Schüssler

Gute Taten werden sofort belohnt. Das ist ein ehernes Gesetz in der Welt der Computerspiele. Punkte, Boni, die Beförderung aufs nächste Level und ein neuer Highscore – das erwartet der Spieler für die Mühen, die er am Joystick verrichtet. Dieses Prinzip greift nun zunehmend auf die reale Welt über. Das nennt sich «Gamification». Und auch wenn man es kaum glauben mag – dieser Megatrend hat es geschafft, dass sich notorisch untrainierte Computernerds sportlich betätigen und in Bewegung halten.

Den Ansporn dazu geben die Fitnessgadgets. Sowohl beim «Nike Fuelband» als auch beim «Fitbit» wird mit Punkten und Abzeichen belohnt, wer zu Fuss oder auf dem Velo unterwegs ist. Gadgets und Smartphone werden zum persönlichen Coach – mit dem Vorteil gegenüber dem Sportlehrer, dass sie per Tastendruck stummzuschalten sind.

Gamification ist auch im Gesundheitsbereich auf dem Vormarsch. «MySugr» ist eine iPhone-App, die Diabetiker bei der Erfassung von Blutzuckertests und Insulinmengen, Essen, Aktivitäten und Gemütszuständen unterstützt. Für die optimale Behandlung ist die Dokumentation dieser Daten wichtig.

Fredrik Debong ist Mitbegründer des Wiener Start-ups und selbst Diabetiker. Er bemängelt, dass in der Therapie zu oft auf negative Motivation und auf Angstmacherei gesetzt würde. Das führe zu einer negativen Denkweise gegenüber der Krankheit. «Wir wollen mittels ‹MySugr› die Diabetestherapie an sich in etwas Positives verwandeln. Wenn wir es schaffen, dass jeder Blutzuckerwert mit etwas Positivem in Verbindung gebracht wird, dann haben wir gewonnen», erklärt Debong.

«Local hero» auf dem SBB-Netz

Die SBB hat per Anfang 2013 die «Connect»-App lanciert, die fleissiges Zugfahren belohnt und Zugfahrer zusammenführt. Ein integraler Bestandteil der Gamification ist die Community, in der Zugehörigkeit und Rivalität gleichzeitig herrschen. Wer am weitesten Zug fährt und am meisten Punkte sammelt, der schwingt sich zum «local hero» auf. Und natürlich kann man jederzeit via Twitter oder Facebook seine Erfolge verkünden.

Der Begriff der Gamification stammt aus dem Marketing und wird von den Videospielherstellern nicht sehr geschätzt. Während sich aktuelle Game-Titel durch ausgeklügelte Spielmechaniken auszeichnen, funktioniert etwa «Foursquare» gar simpel: Wer sich oft an einem Ort anmeldet und am meisten Check-ins sammelt, der wird Mayor (Bürgermeister). Kundentreue wird belohnt – wie schon zu Zeiten der Rabattmarken. Doch nicht alle Game-Hersteller stehen der Gamification negativ gegenüber. Matthias Sala ist CEO des Schweizer Start-ups Gbanga, und er steckt hinter dem gleichnamigen, mehrfach ausgezeichneten ortsbasierten iPhone-Spiel.

Er verteidigt den jungen Trend: «Die Gamification ist als Instrument so neu, dass die Entwicklung noch nicht weit gediehen ist. Sie steckt noch auf der trivialsten Ebene. Heute werden vorwiegend Punkte gesammelt. Es sind aber viel mehr Aspekte, die ein gutes Spiel ausmachen. 60 bis 100 Motivationsfaktoren gehören dazu – Ungewissheit, Forschungstrieb, Eroberungsdrang.» Sie alle könnten in Apps Niederschlag finden. Gamification öffnet auch Tür und Tor für Freiwilligenarbeit. Die finnische Nationalbibliothek digitalisiert etwa im «Digitalkoot»-Projekt Millionen archivierter Seiten. Im Spiel «Maulwurfjagd» korrigieren die Spieler Fehler bei der Texterkennung und sammeln dafür Punkte. Auch ein neues Schweizer Projekt namens «Kort» (siehe Artikel rechts) setzt auf Crowdsourcing, das heisst auf die Arbeit von Freiwilligen.

Der gläserne Gamer

Dieser Aspekt lässt sich auch negativ sehen. Statt bezahlte Arbeitnehmer für eine Tätigkeit zu engagieren, lässt man sie gegen Punkte und Badges von der Community erledigen. Nicht nur das: Per Gamification werden Nutzer verführt, persönliche Daten preiszugeben.

«Wie bei allem hat das mit der digitalen Bildung zu tun», sagt Spielentwickler Matthias Sala zu diesem Problem. «Man muss sich bewusst sein, dass mit Gamification immer ein bestimmtes Verhalten herbeigeführt werden soll – und das kann auch tendenziös sein.» Doch Gamification heisst für Sala auch, dass man nicht immer nur nach den Regeln spielt, sondern sich überlegt, wie man das System austrickst: «In allen Games versucht man, Bugs zu finden und so zu spielen, wie es vom Erfinder nicht vorgesehen war. Betrügen gehört dazu!»

Sala ist der Ansicht, viele Wirtschaftszweige könnten generell von der Spielindustrie lernen. Sein Game «Gbanga Familia» ist kostenlos und finanziert sich über In-App-Käufe. Eingefleischte Spieler können sich durch den Kauf von virtuellen Gegenständen wie dem Weltherrschaftssatelliten Vorteile verschaffen. Dieses Prinzip liesse sich beispielsweise auch auf Medienangebote anwenden. Statt Inhalte hinter einer Zahlungsmauer zu verstecken, sollte man engagierten Nutzern kostenpflichtige Extraangebote offerieren, schlägt Sala vor.

Dank der «Connect»-App der SBB ist der Zug auch eine Community, in der Zugehörigkeit und Rivalität herrschen. Foto: Keystone

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 11. März 2013

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