Bettina Wulff Ihre Klage sollte für den Suchkonzern ein Anlass sein, die Vorschlagsfunktion zu überdenken.

Googles Gerüchte-Multiplikation

Von Matthias Schüssler

In Deutschland steht Google vor Gericht. Im jüngsten Fall, der am hamburgischen Landgericht verhandelt wird, geht es um die Klage von Bettina Wulff. Die Frau des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff setzt sich gegen das Gerücht zur Wehr, sie sei im Rotlichtmilieu tätig gewesen.

Google ist wegen der sogenannten Autovervollständigung ins Visier geraten. Das ist eine Vorschlagsfunktion, die Webrecherchen beschleunigt. Sobald man einige Buchstaben getippt hat, stellt Google in einer Liste beliebte Suchanfragen bereit. «Bettina Wulff» ist so populär, dass sie bereits nach den ersten beiden Buchstaben in der Liste erscheint. Zum vollständigen Namen ergänzt Google unter anderem die Suchbegriffe «Prostituierte» und «Escort».

Ist das ehrenrührig? Google-Pressesprecher Kay Oberbeck meint nein. Die Vorschläge würden algorithmisch erzeugt. Sie widerspiegelten die populären Suchbegriffe, so wie sie von den Nutzern aktuell verwendet werden. Schuld seien die User und ihre Gier nach Klatsch und Tratsch.

Die Vorschlagsfunktion von Google wurde 2004 (2009 bei der deutschsprachigen Suche) eingeführt und stand damals schon in der Kritik. «Google Suggest», wie die Funktion auf Englisch heisst, habe eine allzu suggestive Wirkung. So schlägt Google (auch heute noch) bei der Suche nach Softwaretiteln die Begriffe vor, mit denen Schwarzkopierer operieren. Google bringe die User auf illegale Ideen, rügten Rechtsexperten damals.

Unwahrheiten werden wahr

Der Konzern beteuert zwar, es würden «strenge Richtlinien hinsichtlich der Entfernung von Pornografie, Gewalt, Hassreden und Begriffen gelten, die häufig für die Suche nach Inhalten verwendet werden, die gegen Urheberrechte verstossen». Zu «Sex» oder «Bombe» bleibt die Liste leer, doch zur Suche nach «Christianity is …» gibt es allerhand Vorschläge. «Das Christentum ist das perverseste System, das den Menschen je beschieden war», erscheint an prominenter Stelle. Das ist zwar ein Zitat des ehemaligen US-Präsidenten Thomas Jefferson, aber aus dem Zusammenhang gerissen wenig konstruktiv.

Dass Google mit seinen Vorschlägen die Persönlichkeitsrechte verletzt, hat das Bezirksgericht Tokio im März dieses Jahres festgestellt. Der Kläger hatte damals argumentiert, Google schlage zu seinem Namen als weitere Suchbegriffe Straftaten vor – was ihn seinen Job gekostet habe. Die Bitte, die Begriffe nicht im Zusammenhang mit seinem Namen zu nennen, hatte der Konzern ausgeschlagen. Auch damals schon mit dem Verweis, der Algorithmus sei zuständig.

Mit dieser rein technischen Sicht macht es sich Google zu einfach. Es stimmt zwar, dass der Suchkonzern die Vorschläge nicht erfindet. Er stattet sie jedoch mit einem grossen Multiplikator aus und gibt ihnen ungeheures Gewicht. Das öffnet Verleumdern und üblen Nachrednern Tür und Tor. Wer es schafft, ein virales Gerücht in Umlauf zu bringen, der kann auf Google als Komplizen zählen. Die Vorschlagsfunktion wird es auch denen unter die Nase reiben, die es zuvor noch gar nicht kannten.

Es ist an der Zeit, dass Google seinen Algorithmus überdenkt. Wenn allein die Häufigkeit von Suchbegriffen den Ausschlag darüber gibt, was wichtig ist oder nicht – dann sind wir an dem Punkt, wo Unwahrheiten durch ständige Wiederholung eben doch irgendwann wahr werden.

Die Verantwortung für Vorschläge bei der Suche trage der Algorithmus, sagt Google. Foto: Keystone

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 12. September 2012

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