Der schüchterne Vater des Computers

Der Brite Alan Turing hat nicht nur die Grundlagen für den Informatik-Boom geschaffen: Indem er den Geheimcode der deutschen Wehrmacht knackte, verkürzte er auch den Zweiten Weltkrieg. Doch in der Heimat wurde er verurteilt, weil er schwul war.

Von Matthias Schüssler

Computer haben ihren Zauber verloren. Auf Schritt und Tritt begleiten sie uns durch den Alltag. Zu normal, und zu allgegenwärtig sind sie, um uns noch zu bezirzen.

Nun ruft uns ein Jubiläum die faszinierende Entstehungs- und Erfolgsgeschichte der Rechenmaschinen ins Gedächtnis zurück: Am 23. Juni 2012 wird der 100. Geburtstag von Alan Turing gefeiert. Dieser englische Wissenschaftler hat vor 76 Jahren den Funken geschlagen, an dem sich die Informationsrevolution entzündete. 1936 schuf Turing in seinem Aufsatz «On Computable Numbers with an Application to the Entscheidungsproblem» die theoretischen Grundlagen der Informatik.

Turing bewies, dass dieses «Entscheidungsproblem» nicht lösbar ist und es keine allgemeingültige Methode gibt, die Beweisbarkeit mathematischer Aussagen zu ermitteln. Er steckte die Grenzen der Berechenbarkeit ab und entwickelte gleichzeitig ein Verfahren, das bei lösbaren Problemen die Lösung findet – und zwar auf rein mechanischem Weg. Turing skizzierte das abstrakte Modell eines Automaten, der alles berechnen kann, was auch berechenbar ist. Das ist die Turing-Maschine.

Universelle Rechenmaschine

Sie hat einen Lese- und Schreibkopf, der sich auf einem unendlich langen Speicherband bewegt und gemäss seinem Programm den Inhalt des Speicherbands verändert. Sie erfüllt das Merkmal, universell programmierbar oder «Turing-vollständig» zu ein. Der erste Computer, auf den das (trotz des endlichen Speichers) zutraf, war die Z3. Konrad Zuse hatte sie 1941 in Berlin gebaut.

Frappant ist, dass der Computer im turingschen Sinn um ein Haar schon 100 Jahre vor seiner theoretischen Beschreibung gebaut worden wäre. Charles Babbage hatte im viktorianischen England die «Analytical Engine» erdacht, die von einer Dampfmaschine angetrieben und mit Lochkarten hätte gefüttert werden sollen. Aus Geldmangel wurde sie nie gebaut, doch sie hat Turing dazu gebracht, sich mit den mathematischen Gemeinsamkeiten zwischen denkendem Mensch und rechnender Maschine zu beschäftigen. Das Nervensystem funktioniere zwar genauso wie digitale Computer elektrisch. Doch Babbages rein mechanische Maschine habe gezeigt, wie oberflächlich diese Analogie sei, schrieb Turing 1950.

Alan Turing wurde am 23.  Juni 1912 in London geboren. Schon früh schlugen Zahlen und Rätsel ihn in seinen Bann. In der Schule zeigte er wenig Begeisterung für die Geisteswissenschaften und handelte sich in diesen Fächern schlechte Noten ein. Er wird als menschenscheu und geradezu exzentrisch beschrieben. Vorlesungen übte er mit seinem Teddybär Porgy.

Es wird berichtet, er habe seine Teetasse mit einem Fahrradschloss an seine Heizung gekettet und sei wegen seines Heuschnupfens mit Gasmaske Fahrrad gefahren. Es gibt kaum Fotos von ihm, und vieles über sein Leben ist unter Verschluss. Auch deswegen kennt man den Pionier heute weniger als Bill Gates oder Steve Jobs. «Turings vorwiegend theoretische Errungenschaften sind schwerer zu vermitteln als konkrete Produkte», erklärt Herbert Bruderer vom Departement Informatik der ETH Zürich. Und im Unterschied zu den mediengewandten amerikanischen Geschäftsleuten hätte der als scheu geltende Mathematiker selbst wenig getan, um seine Gedanken zu verbreiten.

Die Turing-Bombe

Vieles über Turings Leben liegt im Verborgenen, weil er während des Zweiten Weltkriegs fürs britische Militär arbeitete. Auf dem Landsitz Bletchley Park entschlüsselte er die Funksprüche der deutschen Marine. Mit einer rund eine Tonne schweren Maschine, der «Turing-Bombe», entmystifizierte er die als «unknackbar» geltende «Enigma»-Chiffriermaschine der deutschen Wehrmacht und konnte den Zweiten Weltkrieg nach Schätzung britischer Historiker um zwei Jahre verkürzen.

Nach seiner wegweisenden und bis in die 1970er-Jahre geheimen Arbeit als Codeknacker arbeitete Turing ab 1945 an Rechenmaschinen und an Softwareprogrammen. 1950 stiess er zum eigentlichen Kern seiner Arbeit vor – zur Frage des Verhältnisses zwischen menschlichem Geist und rechnenden Maschinen. Er interessierte sich für die Frage, ob man eine Maschine bauen kann, die wie ein Gehirn funktioniert.

Um künstliche Intelligenz zu identifizieren, entwickelte er den Turing-Test. Der Testleiter steht einem Computer und einem Menschen gegenüber und versucht, allein aufgrund der Antworten der beiden Teilnehmer zu entscheiden, welches der Mensch und welches die Maschine ist. Turing war überzeugt, es würde spätestens im Jahr 2000 Maschinen geben, die seinen Test locker bestehen würden. «Turing hat die Schwierigkeiten wohl unterschätzt», kommentiert Herbert Bruderer von der ETH und verweist darauf, dass auch heute Schachprogramme andere Spielstrategien verwenden als der Mensch: «Es ist umstritten, ob Maschinen denken können», meint Bruderer.

Immerhin: Mit Cleverbot gibt es heute eine künstliche Intelligenz, die mehr als 65 Millionen Unterhaltungen geführt hat und diese für neue Konversationen auswertet. In einem Versuch in Indien wurde der Bot 2011 von 59,3 Prozent der Teilnehmer für menschlich gehalten.

3000 Sonnenblumen für Turing

Der Wille, die Vorgänge des Lebens zu verstehen, liess Turing nicht los. Er wandte sich ab 1952 der theoretischen Biologie zu. Er erforschte, wie sich Muster aus dem Nichts bilden und wie man erklären kann, dass Zebras Streifen und Leoparden Flecken haben. Er entdeckte die Fibonacci-Zahlenfolge in der Anordnung von Blättern und Blütenständen. Ihm zu Ehren pflanzt die Stadt Manchester diesen Sommer am Science Festival mehr als 3000 Sonnenblumen. Seine Arbeit zu den Blumen blieb unvollendet, als er 1954 starb.

Es bleibt offen, ob Turings Vertrauen in die Maschinen gerechtfertigt war. Sein Misstrauen in die Menschen war es. Obwohl ein Kriegsheld, hat ihn die britische Obrigkeit kriminalisiert und mutmasslich in den Selbstmord getrieben. 1952 wurde Turing wegen einer gleichgeschlechtlichen Beziehung wegen «grober Unzucht und sexueller Perversion» angeklagt. Homosexualität war in England strafbar, und man stellte ihn vor die Wahl, sich mit Östrogen behandeln zu lassen oder eine Haftstrafe abzusitzen.

Turing entschied sich für die Hormonbehandlung und litt zunehmend unter der Verweiblichung seines Körpers. Am 7. Juni 1954 biss er in einen vergifteten Apfel und nahm sich das Leben – wie Schneewittchen in dem von ihm verehrten Märchen, wie vermutet wird. Englands Premierminister folgte 2009 einer Petition, die die Rehabilitation von Turing forderte. Er entschuldigte sich für die «furchtbare Behandlung» von Turing und Tausenden schwulen Männern «unter homophoben Gesetzen.»

Die Statue von Alan Turing auf dem Landsitz Bletchley Park, geschaffen vom Bildhauer Stephen Kettle. Foto: Historyofit.com

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 18. Juni 2012

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