Ein Netz für Facebook-Moms

Pinterest, eine neue Social-Media-Plattform, spricht vor allem Frauen an. Darüber ist bereits eine Geschlechterdebatte entbrannt.

Von Matthias Schüssler

Die grossen sozialen Netze haben einen gemeinsamen Nenner: Ohne das geschriebene Wort läuft nichts. Sie leben von knackigen Status-Updates und den Links auf interessante Presse- oder Blogbeiträge. Man kann seine Zeitleiste zwar multimedial mit Schnappschüssen, Youtube-Videos oder Spotify-Songs würzen. Trotzdem: Wer lese- und schreibfaul ist, hat mit Facebook oder Twitter nicht viel Freu(n)de.

Es geht aber auch anders: Einige der wie Pilze aus dem Boden schiessenden neuen sozialen Netze kommen fast ohne Worte aus. Etwa Dailybooth.com: Auf dieser in den USA populären Plattform veröffentlicht man täglich ein Bild: ein Selbstporträt oder eine fotografisch festgehaltene Begebenheit.

Auf Pinterest.com drückt man sich aus, indem man Bilder sammelt. Stösst man im Netz auf ein interessantes Motiv, dann klickt man auf das «Pin it!»-Symbol, das Pinterest in der Lesezeichenleiste eingefügt hat. Es erscheint eine Übersicht aller Bilder auf der Seite, aus der man das gewünschte auswählt und auf einem seiner Steckbretter platziert: «Du organisierst all die schönen Dinge, die du im Internet findest, und teilst sie mit deinen Freunden», heisst es in der Anleitung. Fundstellen sind öffentlich und man kann seine Pinnwände auch für Freunde und Zuträger öffnen.

Die schönen Dinge des Internets

Das Pinterest-Prinzip eignet sich logischerweise hervorragend für Produkte – solche, die man hat und vielmehr noch für die, die man gern kaufen und besitzen möchte. Pinterest wirkt denn auch wie ein Kaufhaus, durch das ein Wirbelsturm gerast ist: Stiefel, Sommerkleider, Schmuck, Handtaschen, dazwischen auch mal ein Motorrad oder ein Flaschenöffner für «Space Invaders»-Fans. Bei Katherine Rosman vom «Wall Street Journal» bewirkte die Macht der käuflichen Objekte eine Beflügelung des Ehelebens: «Ich habe die Pinnwand ‹Dinge, die mein Ehemann mag› eingerichtet und dort Oldtimer-Autos und Golfplätze abgelegt», schrieb die Journalistin im Artikel über Pinterest. Daraus habe sich eine Kommunikationsform voller Anteilnahme entwickelt.

Pinterest hat seit dem Start im März 2010 ein rasantes Wachstum hingelegt. Um atemberaubende 512 Prozent ist das Netzwerk im letzten Jahr laut Marktforscher Comscore gewachsen – und das, obwohl der Zugang nur auf Einladung hin möglich ist. 136 Millionen Leute besuchen die Plattform täglich.

Besonders populär ist die Site bei den «Facebook-Moms» – jungen, internetaffinen Müttern. 68 Prozent des Publikums sind weiblich, genau die Hälfte hat Kinder. Und: 97 Prozent der Fans auf Facebook sind weiblich. Da scheint sich ein Geschlechterkampf anzubahnen: «Während die Männer auf Google Plus rumhängen, vergnügen sich die Frauen auf Pinterest», schreibt eine deutsche Bloggerin: «Ein Bild sehen, wenige Sekunden darüber nachdenken und es gut oder doof finden – das sind keine typisch männlichen Vorlieben.»

Prägungsstätte fürs Mannsein

Diese Ansicht teilen nicht alle. Die Macher von Gentlemint.com wenden das Prinzip an, um, frei übersetzt, eine «Prägungsstätte fürs Mannsein» zu werden. Da gibt es die stärksten alkoholischen Drinks (Platz 1: Everclear, ein Agraralkohol aus Saint Louis), die ungewöhnlichsten Waffen aus aller Welt (etwa einen dreiläufigen Bündelrevolver) oder einen programmierbaren Teekocher (der Bugatti Vera) zu sehen. Zuletzt gibt es das Prinzip auch für «Unterhaltung für den Mann»: «Pornterest» ist nur ein Vertreter aus dieser Kategorie.

Eine Studie der US-Marktforschungsfirma Comscore hat ergeben, dass die Frauen soziale Netze generell intensiver nutzen – namentlich Facebook. 6,5 Stunden verbrachten Frauen im Oktober 2011 auf sozialen Netzen. Bei Männern waren es 5 Stunden. Die Schweizer – Männer wie Frauen – sind eigentliche Social-Media-Muffel: 4 Stunden pro Monat wenden sie auf. Das ist die Hälfte des europäischen Schnitts.

Pinterest ist ein von einer Internet-Community gespiesener Produktkatalog. Screen: TA

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 12. März 2012

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