Fortschritt Er geht auch 2011 weiter – doch viele Versprechen werden uneingelöst bleiben. Die neuen Geräte lösen zwar viele Probleme, aber sie schaffen gleichzeitig neue.

Technostress statt Seelenfrieden

Matthias Schüssler

Technik sollte unser Dasein einfacher und angenehmer machen. Sinn und Zweck der uns umgebenden Hightech sind Zeitersparnis, Unterhaltung, Lebensqualität. Das Handy hat meine Kommunikationsbedürfnisse in jeder Lebenslage zu erfüllen. Der Computer soll mir die Arbeit verkürzten. Und der Tablet-PC ist dazu da, nonstop Unterhaltung und Informationen zu liefern.

Diesem Anspruch werden die Geräte inzwischen weitgehend gerecht. Aufgaben, für die es keine digitale Lösung gibt, findet man kaum noch, es gibt eine App für alles und noch viel mehr. Die technische Entwicklung, die in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts mit integrierten Schaltungen, Lochkarten und Transistoren ihren Anfang nahm, scheint mit Megapixel-Bildschirmen, Gigahertz-Prozessoren und Terabyte-Festplatten an ihrem natürlichen Ende angekommen zu sein.

Und doch will sich dieses Hightech-Wunderland nicht wie das Paradies anfühlen. Es fällt auf, dass die grosse Entspannung ausbleibt. Man fragt sich, wo die Zeit hinkommt, die man dank Hightech sparen müsste. Der Stress ist aber offensichtlich nicht kleiner, sondern nimmt exponentiell zu – gerade für Leute, die sich keinem Trend verschliessen.

Offenbar ist die hilfreiche Technik ihrerseits für jede Menge Technostress verantwortlich. Sie macht uns abhängig. Sie zwingt uns komplexe Konzepte auf. Sie verlangt uns Denkarbeit für Administratives ab. Sie lässt uns nicht zur Ruhe kommen.

Wo ist die Technik, die uns Seelenfrieden schenkt? Folgende Faktoren sorgen für den grössten Stress:

Sicherheits-Kopfschmerzen Unbegreiflich, dass PC-Anwender noch immer um einen Schutz vor Viren und Malware bemüht sein müssen. Auch wenn sich die Hersteller von Sicherheitsprogrammen heute eine goldene Nase verdienen – die Schutzfunktionen gehören ins Betriebssystem integriert. Kostenlos!

Penetrante Updates Software ist niemals fertig. Anpassungen, Fehlerbereinigungen, Sicherheitslücken zwingen zu ständigen Updates. Die meisten Programme haben zwar inzwischen eine Aktualisierungsfunktion, die automatisch nach neuen Versionen sucht. Aus Anwendersicht kommen die Update-Begehren aber immer im falschen Moment: Wilde Download-Aktivitäten, Forderungen nach Neustarts des Systems und unvermittelte Dialoge, die einen aus der Arbeit reissen. Eine zentrale, intelligente Update-Funktion für alle installierten Programme ist überfällig. Und natürlich sollte die so rücksichtsvoll sein, den Benutzer nur dann zu stören, wenn es unvermeidlich ist – ein Fall, der selbstredend niemals eintreten darf.

Das leidige Treiber-Theater Wenn man mit dem Notebook unterwegs ist und eben schnell einen Text auf dem Drucker des Freundes ausgeben möchte, jemandes Scanner ausleiht oder eine neue Webcam anschliesst, wird man mit Forderungen des Betriebssystems nach einem Treiber konfrontiert. Windows und Mac OS X bemühen sich zwar redlich, die Software automatisch zu installieren. Doch oft genug klappt das nicht – weil das Gerät alt oder exotisch ist oder weil das Betriebssystem einen schlechten Tag hat. Das sollte besser und einfacher funktionieren. Und zwar dank offenen Standards für den Datenaustausch.

Es bleibt unfassbar, wie viel Zeit mit Installation, Konfiguration und Wartung verloren geht. Noch immer herrscht beim typischen Windows-Anwender die Meinung vor, dass ohne Registry-Bereiniger, Festplatten-Defragmentierer und System-Optimierer die digitale Anarchie ausbricht. Doch die Zeit dieser Utilities ist eigentlich abgelaufen. Denn wenn es selbstreinigende Backöfen gibt, soll sich auch der Computer gefälligst selber auf Vordermann bringen.

Fehlende Harmonie Unzeitgemäss ist zudem, wie viel Einrichtungsaufwand pro Rechner anfällt. Viele Leute arbeiten mit zwei, drei oder mehr Computern: einem stationären Bürorechner, Notebooks oder Netbooks und einem Privat-PC. Ihnen wäre geholfen, wenn die Arbeitsumgebung automatisch harmonisiert würde. Einmal eingerichtet, wäre ein neues Programm automatisch auf allen Arbeitsstationen verfügbar. Auch Dinge wie Benutzerwörterbücher, Lesezeichen oder die Anordnung der Icons auf dem Desktop will man nicht auf allen Maschinen parallel führen. Die Zukunft gehört einem Benutzerkonto, das uns überallhin folgt, auf all unsere Maschinen. Mit diesem Luxus wird uns Google 2011 ja auch das Chrome OS schmackhaft machen.

Die Tragödie des vergessenen Dokuments Es kann nicht sein, dass man im Zeitalter des mobilen Internets immer wieder daran denken muss, wichtige Präsentationen auf den USB-Stick zu kopieren oder Mails auszudrucken. Der ganze Datenbestand via Internet griffbereit und in der «Cloud» datengesichert – das müsste heute keine Utopie mehr sein.

Der Terror der Akku-Anzeige Das Smartphone ist Navigationsgerät, Zahlungsmittel, Musikplayer, kommunikativer Dreh- und Angelpunkt und Gedankenstütze. Da kann es nicht angehen, dass man sich ständig ängstigen muss, wie lange der Akku noch durchhält. Diese Sorge fällt flach, wenn lebenswichtige Geräte mindestens 24 Stunden lang ohne Ladegerät auskommen. Und sich bei Bedarf gleich selbst aufladen, und zwar kabellos. Wie es dank Induktionstechnologie möglich wäre.

Der nervenzehrende Start Ihn erlebt man neuerdings sogar beim Fernseher. Eine fatale Entwicklung, die unwiederbringliche Lebenszeit kostet. Sofortige Einsatzbereitschaft tut not – weil Zeit kostbar ist.

Der Format-Wirrwarr Ihm begegnet man auf Schritt und Tritt. Er stört den Austausch von Daten und Dokumenten massiv. Bei Office-Dokumenten bessert sich die Situation. Dafür wird die Sache bei Multimedia fast täglich schlimmer. Es existiert ein Dutzend Videoformate. Um ein Youtube-Video aufs iPhone zu bringen, braucht es ein halbes Informatikstudium. Besonders schlimm wird es, wenn auch noch der Kopierschutz ins Spiel kommt.

Nebulöse Fehlermeldungen Sie existieren sowohl bei Computeren als auch zunehmend bei Smartphones. Sie stören und lassen den User gnadenlos ins Leere laufen. Das ist unhöflich, unzeitgemäss und eröffnet die allergrösste Verbesserungsmöglichkeit für die Digitaltechnik.

Man fragt sich, wo die Zeit hinkommt, die man dank all der Hightech sparen müsste.

Quelle: Der Bund, Mittwoch, 29. Dezember 2010

Rubrik und Tags:

Metadaten
Thema: Aufmacher
Nr: 9714
Ausgabe:
Anzahl Subthemen: 1

Obsolete Datenfelder
Bilder: 1
Textlänge: 600
Ort:
Tabb: FALSCH