Literaturklassiker erobern den iPod

Wer lieber lauscht als liest, findet im Internet Hörbücher zum Download – gratis.

Von Matthias Schüssler

Beim Joggen oder Velofahren, während man Wäsche aufhängt oder das WC putzt – wenn man beide Hände voll zu tun, aber zwei freie Ohren hat –, sind Hörbücher ein willkommener Zeitvertreib. Ohrenfutter für MP3-Player und iPods gibt es gegen Geld in Buchhandlungen und im iTunes Music Store, oder aber kostenlos im Web.

Auf der Website www.vorleser.net finden sich rund vierhundert Hörbücher im MP3-Format zum Gratis-Download. Das Angebot aus Leipzig ist legal. Zum Download stehen Werke, deren Urheberrecht abgelaufen ist. Entsprechend vertont Vorleser.net hauptsächlich Klassiker: Angefangen beim griechischen Fabeldichter Aesop umfasst die Hörbibliothek Werke von Goethe und Schiller, den Gebrüdern Grimm, Jules Verne, Tucholsky, Nietzsche und Mark Twain. Auch Gottfried Keller ist vertreten – leider nicht mit dem «Grünen Heinrich», sondern nur mit dem anderthalb Minuten langen Gedicht «Im Wald». Gesprochen werden die Texte von Schauspielern. Auf Musik- oder Geräuschuntermalung, wie man sie häufig bei aufwändig produzierten käuflichen Hörbüchern findet, muss der Hörer meistens verzichten.

Auf Vorleser.net finden sich auch kostenpflichtige Hörbücher, beispielsweise der komplette Koran als 21-stündige Lesung, die man für 24.90 Euro herunterlädt.

Unter dem Namen «LibriVox» (www.librivox.org) haben freiwillige Enthusiasten ein Projekt gestartet, das Hörbücher kostenlos und ohne kommerzielle Interessen anbieten. In ehrenamtlicher Arbeit entstehen Hörbücher in verschiedenen Sprachen. Aufnahmen entstehen in Deutsch, Französisch und Italienisch. Die überwiegende Mehrheit ist allerdings in Englisch.

«Schweizer Robinson» auf Englisch

Geboten wird viel Shakespeare, wiederum Aesop und seine Fabeln, aber auch «Max und Moritz» von Wilhelm Busch oder Texte aus der Bibel. Zum Vortrag steht unter den rund 600 Titeln auch «Der Schweizerische Robinson» von Johann David Wyss in englischer Übersetzung – einer der weniger bekannten Schweizer Klassiker, der von einer in Indien gestrandeten Auswandererfamilie handelt.

Gelesen wird die Geschichte des Berner Stadtpfarrers von einem gewissen Marc Smith aus Simpsonville, South Carolina, der weder über eine Ausbildung als Sprecher noch über ein gutes Mikrofon verfügt. Die «LibriVox»-Hörbücher sind unverkennbar Amateurproduktionen, bei denen nicht immer alle Versprecher herausgeschnitten wurden. Wer das nicht goutieren mag, könnte dann doch selbst lesen – die «LibriVox»-Texte stammen allesamt aus dem Projekt Gutenberg, das klassische Literatur seit 1971 in elektronischer Form archiviert. Heute sind die Texte via Internet frei zugänglich: www.gutenberg.org

Deutsche Texte finden sich auch unter www.digbib.org oder unter http://gutenberg.spiegel.de. Beim zweiten Angebot besteht trotz des ähnlichen Namens keine Verbindung zum ursprünglichen Projekt Gutenberg.

Manche Liebhaber klassischer Literatur mag es stören, wenn die Werke via Internet und iPod zum Begleitmedium werden. Dabei ist das allemal besser, als in Bibliotheken zu verstauben.

SCREEN TA

Ohrenfutter à discrétion: Geschichten, Erzählungen und Sagen als MP3.

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 23. April 2007

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