Wie Illustrationen das Laufen lernen

Motion von Apple ist wie Photoshop oder Illustrator eine Software zur Bildgestaltung. Im Unterschied zu den klassischen Bildbearbeitungsprogrammen entstehen mit Motion basierend auf Grafiken bewegte Videoanimationen für Film, Fernsehen oder Internet.

Matthias Schüssler Journalist und Computerexperte; betreut die Kummerbox des «Tages-Anzeigers», schreibt für Informatik-Fachzeitschriften und hat als Programmierer das Spiel «Clickomania» entwickelt

Das Fernsehen ist eine Bildschleuder, die nichts so sehr fürchtet wie die Bewegungslosigkeit. Statische Einstellungen, in denen sich nichts bewegt, sind Gift. Der Zuschauer empfindet sie als langweilig, fühlt sich gehalten umzuschalten und sich anderweitig Augenkitzel zu besorgen. Selbst einfache Texttafeln, Symbolbilder, Diagramme oder Programmhinweise sind dem Zwang unterworfen, visuelle Anreize zu liefern: Daher fliegen Textelemente ins Bild, werden die Bestandteile von Balken- oder Kuchendiagrammen effektvoll animiert in Szene gesetzt. Selbst das Senderlogo bleibt vom Animationszwang nicht verschont: Die deutschen Privatsender RTL II oder Pro Sieben blenden ihr Erkennungszeichen nach Werbepausen nicht einfach ein, sondern lassen es mehr oder weniger trickreich im Bild erscheinen.

MTV und die Privatsender haben diese Sehgewohnheiten etabliert. Heute sind sie fester Bestandteil – ob man diese visuelle Hyperaktivität nun schätzt oder nicht. Die Ansprüche des Publikums setzen alle unter Zugzwang. Jegliche Filmproduktionen – auch Bewegtbildbeiträge für firmeninterne Schulungen, Unternehmenskommunikation oder -dokumentation, das Internet oder Werbevideos – müssen bei der Bildsprache auf der Höhe der Zeit sein, um nicht unterschwellig die Botschaft zu transportieren, rückständig zu sein.

Bewährungsprobe für die Hardware

Mit den entsprechenden Werkzeugen rückt die professionelle Videoanimation auch für diejenigen Produzenten in greifbare Nähe, die nicht über das technische Equipment einer Fernsehanstalt verfügen. Mittels entsprechender Software wie Adobe After Effects oder dem neuen Motion von Apple wird aus dem PC oder Mac ein Arbeitsplatz, der auch professionellen Ansprüchen genügt. Allerdings sind die Hardwareanforderungen am oberen Ende der Skala anzusiedeln und noch höher als für den normalen Videoschnitt, wie man ihn mit Programmen wie iMovie, Final Cut Pro oder Adobe Premiere betreibt.

Für Motion empfiehlt Apple mindestens mit zwei Prozessoren ausgestattete und ab zwei Gigahertz schnelle G5-Rechner mit mindestens zwei Gigabyte Arbeitsspeicher. Leistungsdaten, die für die Live-Vorschau der Filmsequenzen notwendig sind – auch wenns zur Not auch ein G4 mit 867 MHz und 512 MB RAM tut. Unbedingt zu checken ist auch, ob die Grafikkarte zu Motion kompatibel ist – denn ansonsten lässt sich die Software erst gar nicht installieren.

Für bewegte Bildkompositonen

Apple Motion ist eine Art Photoshop oder Illustrator – allerdings mit dem grossen Unterschied, dass man keine statischen Bildkompositionen gestaltet, sondern bewegte. Dementsprechend ist die Zeitleiste (Timeline) ein zentrales Werkzeug: Mit ihr erweitert man die zweidimensionale Illustration um die Dimension der Zeit. Über die Zeitleiste kann das Erscheinen und Verschwinden von Bildelementen und Effekten sowie deren Abfolge und Zeitdauer bestimmt werden. Wie in Photoshop stehen dem Benutzer Kompositionsmöglichkeiten (Ebenen und Filter) zur Verfügung; viele andere Werkzeuge zum Freistellen, Komponieren oder Retuschieren von Bildern kennt man von traditionellen Bildbearbeitungsprogrammen. Mit Illustrator oder anderen Vektorprogrammen hat Motion die Verwendung von Bézierkurven gemein. Diese Vektorinformationen werden für Pfade verwendet, mit denen die Bewegung von Elementen oder Texten durch das Bild beschrieben wird. Eine gewisse Ähnlichkeit haben die Videoanimationsprogramme ferner auch mit Flash von Macromedia, zumindest was die Arbeit mit der Zeitleiste betrifft; die interaktiven Möglichkeiten von Flash stehen aber nicht zur Verfügung.

Bewegte Bilder ohne Wartezeit

Mit Motion setzt Apple ein starkes Zeichen und stärkt seine Position im Bereich der digitalen Videobearbeitung. Ein erstes wichtiges Herzstück der Software ist die Real Time Design Engine, die eine Echtzeitvorschau ermöglicht – laut Apple ist dieses Feature bislang in keinem anderen Programm zu finden. Die Echtzeitvorschau bei voller Auflösung ist zwar nur bei der entsprechender Hardwareausstattung zu haben, erspart dem Videokünstler dann aber die sonst übliche Wartezeit, die die aufwändige Filmberechnung mit sich bringt.

Ein zweiter Punkt ist die so genannte «prozedurale Animation» mit Verhaltensmustern. Diese ermöglicht eine neue Art, Objekte in Bewegung zu versetzen. Der traditionelle Weg führt über Keyframes (Schlüsselbilder): Soll ein Text durch ein Bild wandern, so muss lediglich im ersten Schlüsselbild die Ausgangsposition des Textes und im zweiten Schlüsselbild der Endpunkt definiert werden. Das Programm berechnet die Zwischenstufen automatisch. Durch Hinzufügen weiterer Keyframes kann man seine Objekte auch «Umwege» nehmen lassen und komplexe Bewegungsmuster erzielen. Bei der Animation mit Verhaltensmustern weist man einem Objekt ein «Verhalten» oder eine «Kraft» zu. Diese Verhalten lassen sich vergleichsweise leicht einsetzen und das Resultat ist dank Echtzeitvorschau sofort sichtbar.

Motion enthält vierzig verschiedene Verhalten, darunter Wind, Kollision, Schwerkraft, Dreh- und Wurfbewegung. Ähnliche Effekte sind über Keyframes nur schwer zu erzielen und haben auch nicht den gleichen natürlichen «Charme». Nichtsdestotrotz ist der gut ausgebaute Keyframe-Editor auch für die herkömmliche Arbeitsweise gerüstet und animiert nicht nur linear zwischen den einzelnen Schlüsselbildern, sondern auch konstant, über Bézierkurven oder mit weiteren Berechnungsmethoden wie Beschleunigung oder Abbremsung.

Fische klonen per Mausklick Eine zentrale Komponente ist der Generator für Partikelsysteme. Dieser verhilft zu besonders lebensecht wirkenden Bildverfremdungen und generiert natürliche Hintergründe oder andere visuelle Elemente. Fast jedes Objekt in Motion lässt sich als Emitter (Erzeuger) eines Partikelsystems verwenden oder über ein Partikelsystem verfremden. Über Schlüsselbilder oder Verhalten kann man Einfluss auf die Partikelsysteme nehmen.

Ein Beispiel ist der Clownfisch (Abbildung •••). Die einzelne Aufnahme des Fisches wird über ein Partikelsystem vervielfältigt und dann via Verhalten gelenkt, so dass sich eine täuschend echte Bewegung eines Fischschwarms ergibt.

Grosser künstlerischer Freiraum

Visuell denkende Menschen können sich mit Motion zum (fast) allmächtigen Herrscher über die bewegten Bilder aufschwingen – und das zu einem wirklich günstigen Preis. Genügend Flair für bewegte Bilder ist allerdings Voraussetzung. Neueinsteiger sollten genügen Zeit zum Einarbeivideo ten oder für ein Motion-Seminar einplanen. Denn der Lernbedarf ist enorm – gerade für Photoshop-Anwender, die auf statische Bilder getrimmt sind. Nicht zu vergessen ist, dass auch die Bearbeitung der Tonspur und die Beherrschung des Soundeditors zum Handwerk gehört. Apples Gespür für funktionale Benutzeroberflächen macht den Start leicht und führte – zumindest beim Software-Tester und Autor dieses Beitrags – zu schnelleren Resultaten als bei Konkurrenzprodukten. Dabei stellte sich das Experimentieren mit Motion als eine vergnügliche, sogar lustvolle Angelegenheit heraus.

Motion von Apple bietet spannende Ansätze, so dass es sich auch für erfahrene Anwender von Konkurrenzprodukten wie Adobe After Effects durchaus lohnt, einen Blick auf die Software zu werfen. Wer bereits andere Video-Werkzeuge von Apple einsetzt, schätzt bestimmt die Integration mit Apples DVD-Authoring-Tool und den Video-Schittprogrammen. In Final Cut Pro gesetzte Schnittpunkte, Ebenen und Bewegungspfade bleiben in Motion erhalten – und mit Motion lassen sich Bewegtmenüs für die Verwendung in DVD Studio Pro erzeugen.

P: 449 Franken

I: www.apple.com/chde/motion

Glossar

Animation: Grafische Elemente, Filmsequenzen oder Standbilder werden verfremdet oder durch aufwändige Vektoreffekte durch Bild bewegt. Mit effekten durch Computer Graphic (CG) lassen sich beispielsweise bewegte HIntergründe oder Rauch ins Bild einfügen.

Macromedia Flash: Ein Flash-Film ist eine Sequenz von animiertem Text oder grafischen Elementen. Da bei Flash hauptsächlich Vektor-Grafik zum Einsatz kommt, sind kleine Dateigrössen und damit eine schnelle Online-Übertragung möglich. Flasch-Filme können interaktiv sein. d.h. auf Eingaben des Benutzers reagieren und auch dynamisch generiert werden und so etwa Echtzeitdaten oder Datenbankabfragen durchführen.

Partikelsysteme: Sie simulieren komplexe Phänomene, die durch herkömmliche Modellierung nicht oder nur unter extremem Aufwand erzeugen liessen: Wind, Sternensysteme, Flammen oder Funkenwurf, Rauch oder NEbel etc. Physikalische oder fraktale Rechenmodelle sorgen dafür, dass die Partikelsysteme in Bewegung und Verhalten ihren Vorbildern aus der Natur bzw. der realen Welt möglichst nahe kommen.

Das Fernsehen verabreicht Augenfutter: Werbung, Stations- und Sendungs-Logos, Trailer und Infografiken werden mit Videoanimationen aufgemotzt.

Der Weg zur Herrschaft über die bewegen Bilder führt an vielen Schaltflächen, Reglern und Einstellungsmöglichkeiten vorbei.

Beispiele für Partikelsysteme: Sterne, Feuer und ein Fischschwarm. Bei letzterem wurde das Bild eines einzigen Fisches vervielfältig

Verhaltensmuster für geometrische Objekte: Durch prozedurale Animation wirkt eine «künstliche Schwerkraft» auf die Kreise.

Beispiel für einen Motion-Effekt: Der Kaleidoskop-Filter wird auf das erste Bild angewendet, indem über Schlüsselbilder der Versatzwinkel verändert wird

Jedem Objekt können über die Ebenen-Palette Verhaltensweisen zugeordnet werden, bei Bedarf auch mehrere.

Quelle: Produktion & Print, Mittwoch, 8. Dezember 2004

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Thema: Video
Nr: 5724
Ausgabe: 04-11
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