«Es geht nicht darum, mehr zu verkaufen»
40 Mitarbeiter in Microsofts Accessibility Lab arbeiten an Software ohne Barrieren.
Mit Madelyn Bryant McIntire* sprach Matthias Schüssler
Welche Technologien bringen in der täglichen Arbeit Erleichterung für behinderte Benutzer: die kleinen Systemeinstellungen oder Quantensprünge wie Spracherkennung?
Die kleinen Einstellungen können grosse Verbesserungen bringen. Die Hilfsmittel für Sehbehinderte lassen sich leicht einschalten und sind sehr produktivitätssteigernd. Die Sehbehinderung ist die am weitesten verbreitete Behinderung, zumal der Alterungsprozess bei vielen eine Schwächung der Sehkraft mit sich bringt. Die zweithäufigste sind Beeinträchtigungen der Motorik durch Arthritis oder RSI (Repetitive Strain Injury Syndrom oder «Mausarm»). Wer darunter leidet, arbeitet weniger mit der Maus, dafür mit Tastaturbefehlen – auch hier bieten Computer heute Einstellungsmöglichkeiten. Spracherkennung wird vor allem schwer Behinderten helfen. Aber viele Leute sind einfach schneller, wenn sie tippen, und sie wollen nicht unbedingt zu ihrem Computer sprechen.
Was ist das Motiv für Microsoft, sich für die Accessibility zu engagieren?
Es gibt mehr als einen Grund. Einer der wichtigsten: Wir wollen, dass unsere Kunden langfristig zufrieden sind. Die Computer begleiten die Benutzer durchs Leben, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Benutzer irgendwann in seinem Leben eine Behinderung haben wird, ist extrem hoch. Wenn Sie lang genug leben, werden Sie irgendwann eine Behinderung haben. Falls nicht, sind Sie einfach zu jung gestorben.
Accessibility geht alle an?
Genau. Die zweite wichtige Motivation ist, dass Leute mit Behinderungen ihrer Zeit immer voraus waren, was Innovationen anbelangt. Indem wir Neuerungen für Behinderte entwickeln, entdecken wir Dinge, die schliesslich allen dienen. Man kann sagen, dass Rechtschreibkorrekturprogramme für Legastheniker entwickelt wurden, heute aber den breiten Massen von Nutzen sind. In diesem Bereich gibt es sehr viele Beispiele, wo eine Funktion für Behinderte am Schluss der ganzen Gesellschaft einen guten Dienst leistet.
Sie machen kaum einen Unterschied zwischen Usability (der Benutzerfreundlichkeit, die alle Anwender angeht) und der Accessibility.
Traditionell kümmert sich die Usability um Leute ohne Behinderung. Unsere Erfahrung zeigt, dass wir die Definition von Usability ausweiten müssen. Wie erwähnt, gibt es viele Leute, die einen markanten Verlust der Sehkraft haben, aber mit niemandem darüber sprechen. Vielleicht merken sie es nicht einmal selber, weil die Veränderung graduell über eine längere Zeitdauer passiert.
Microsoft ist ein Technologie-Unternehmen: Aber reichen technische Verbesserungen allein für einen Fortschritt?
Technologie-Unternehmen haben eine Rolle zu spielen. Wir haben eine laute Stimme, mit der wir uns bei den Hochschulen Gehör verschaffen – wir stellen viele Hochschulabgänger ein. Trotzdem braucht es die ganze Gesellschaft. Die Politik ist wichtig, und wir brauchen einen Dialog über diese Themen, ohne dass sich die Betroffenen stigmatisiert fühlen.
Damit das so funktioniert, müssen die Entwickler von Beginn weg ein Bewusstsein für diese Themen haben. Ist das so?
Es liegt noch viel Arbeit vor uns. Solange die Entwickler an der Hochschule nichts über Accessibility hören, wird es schwierig sein, ihr am Arbeitsplatz Gehör zu verschaffen. Accessibility gehört auf den Lehrplan der Hochschulen. Wenn junge Entwickler über ihre Karriere nachdenken, dann gehts ihnen um einen beeindruckenden Lebenslauf, um akademische Meriten, die Anerkennung in der Branche einbringen. Die Accessibility hat noch nicht diesen Status. Die EU-Kommission hat jedoch Änderungen des Lehrplans ins Auge gefasst.
Die breite Bevölkerung sieht Microsoft nicht als Unternehmen, das der Benutzerfreundlichkeit oder behindertengerechten Produkten viel Bedeutung beimisst. Wieso hat Microsoft einen schlechten Ruf?
Wir machen keinen guten Job, was das Marketing in diesem Bereich anbelangt. Wir haben nicht annäherungsweise das getan, was wir hätten tun können und tun sollen, um den Leuten verständlich zu machen, welche Möglichkeiten in den Produkten stecken. Es geht nicht darum, mehr Produkte zu verkaufen – die Leute, die profitieren könnten, sind bereits unsere Kunden.
Eine womöglich absurde Frage: Denken Sie über Accessibility in Spielen nach?
Ja. Der Flugsimulator kann in der neuesten Version komplett über die Tastatur gespielt werden. Wir diskutieren mit dem Xbox-Team über behindertengerechte Spiele. Die Entwickler haben noch keine befriedigende Lösung, wie man Blinden die Grafik erschliessen könnte. Mir gefällt die Idee eines Multiplayer-Spiels, das Sehende und Blinde gleichermassen spielen können und in dem es die Möglichkeit gibt, dem Gegner die Sehfähigkeit zu rauben.
Bei allen technischen Hilfsmitteln und der vielfältigen Unterstützung durch die Software: Kann ein Blinder den Computer jemals so gut beherrschen wie ein normal sehender Benutzer?
Im Accessibility Lab veranstalten wir gelegentlich kleine Wettkämpfe. Ein Mitglied meines Teams mit einer schweren Behinderung, meistens eine blinde Person, und ein leitender Angestellter des Unternehmens bekommen die gleiche Aufgabe gestellt. Oft ist es ein Kopf-an-Kopf-Rennen, oft genug ist es mein Mitarbeiter, der die Aufgabe schneller löst. Und glauben Sie mir, meine Mitarbeiter spielen gegen ehrgeizige Chefs.
* Madelyn Bryant McIntire leitet seit 1999 die Accessible Technology Group am Microsoft-Hauptsitz in Redmond.
BILD MATTHIAS SCHÜSSLER
Ein Dialog, bei dem sich niemand stigmatisiert fühlt.
«Bei Innovationen sind Leute mit Behinderungen ihrer Zeit voraus.»
MADELYN MCINTIRE