Die Erfahrung Behinderter nützt allen
Die Computerbenutzung wurde für Behinderte in den letzten Jahren einfacher. Davon profitieren alle Anwender.
Von Matthias Schüssler
Computer sind für gesunde Menschen konzipiert. Für die Eingabe per Maus oder Tastatur braucht der Anwender motorische Fähigkeiten und muss sehen und hören können, um die Informationen am Bildschirm oder akustische Signale wahrzunehmen. Behinderte sind im Umgang mit Computern mit hohen und oft unüberwindlichen Hürden konfrontiert.
Diese Barrieren abzubauen, ist das Ziel der Accessibility. Das englische Wort bedeutet «Zugänglichkeit» und bezeichnet Massnahmen, dank denen auch Behinderte im Internet surfen, mailen und auch Computergames spielen können. So genannte assistive Technologien ebnen den Weg in den Cyberspace.
Darunter fallen Hilfsmittel für Blinde wie Screenreader und die Braillezeile, die den am Bildschirm angezeigten Text in gesprochene Sprache respektive in tastbare Informationen in der Brailleschrift umwandeln, aber auch Mausalternativen, die die Steuerung des Computers per Kopf ermöglichen. Ein weiterer Knackpunkt ist das Design: Websites müssen, genau wie Computeranwendungen und Betriebssysteme, bestimmte Kriterien erfüllen, um von Behinderten genutzt werden zu können. Websites sind für Blinde nur dann zugänglich, wenn die Navigationselemente nicht nur in grafischer Form, sondern auch als Text vorliegen. Das neue Behindertengesetz, das am 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist, schreibt Behörden vor, ihre Internetdienstleistungen behindertengerecht zu gestalten.
Eine zentrale Rolle für die barrierefreie Computernutzung fällt Microsoft zu. Der Softwarehersteller betreibt ein Accessibility Lab (siehe Interview unten). Die rund 40 Mitarbeiter des Labs statten das Windows-Betriebssystem mit Schnittstellen für Screenreader und andere assistive Technologien aus, entwickelten die im Betriebssystem standardmässig enthaltenen Hilfsmittel und tüfteln an neuen Accessibility-Möglichkeiten, beispielsweise der Vereinfachung von Arbeitsabläufen.
Kein Minderheitenproblem
Die Leiterin des Accessibility Labs, Madelyn McIntire, sieht Accessibility nicht als Minderheitenproblem: «Wir haben in den USA eine Studie durchgeführt, wonach 60 Prozent der Bevölkerung im Lauf des Lebens von Accessibility-Funktionen profitieren könnten.» Auch wer nicht als behindert gilt, kann sich ein leichteres Leben machen. Wenn im Alter die Sehkraft nachlässt, hilft die Möglichkeit des Betriebssystems, den Kontrast der Anzeige zu erhöhen. Und bei Gelenkproblemen bieten die so genannten Eingabehilfen des Betriebssystems eine schmerzlose Alternative zu Doppelklick und komplizierten Befehlstasten. Microsoft plant in den USA eine Informationskampagne, um die Eingabefunktionen unter den normalen Anwendern bekannt zu machen: «Wenn ein Betroffener den Computer nicht optimal benützen kann, weil er nicht weiss, wie er ihn einrichten muss, leidet er umsonst.»
Stephan Kaufmann betreut die EDV im Wohn- und Bürozentrum für Körperbehinderte (WBZ) in Reinach und bescheinigt Microsoft markante Fortschritte seit Windows 3.1. «Microsoft nimmt die Behinderten ernst», sagt Kaufmann: «In diesem Bereich passiert wirklich etwas.» Im WBZ gibt es 120 Behindertenarbeitsplätze und dementsprechend viel Erfahrung mit den Accessibility-Funktionen.
Undokumentierte Hilfen
Hilfreich sei, dass sich in vielen Programmen Aufgaben sowohl über die Maus als auch per Tastatur erledigen liessen, erklärt Kaufmann. Er bedauert aber, dass die Möglichkeiten oft überhaupt nicht dokumentiert seien. «Die Möglichkeit, in Excel Zahlenreihen nicht per Maus, sondern per Doppelklick auszufüllen, hat ein Anwender mit Muskelschwund selbst herausgefunden.» Auf Grund des eingeschränkten Bewegungsfeldes ist das eine riesige Erleichterung. Kritikpunkt ist Microsofts Bildschirmlupe: «Die ist nicht bedienbar.»
Accessibility Features bieten finanzielle Entlastung für die IV und für Stiftungen. Je mehr Anwender mit den Standardfunktionen des Betriebssystems zurechtkommen und auf teure Spezialprogramme verzichten können, desto grösser sind die Einsparmöglichkeiten. Carl-Lukas Bohny vom Bundesamt für Sozialversicherungen hält ein Sparpotenzial für einleuchtend, will es jedoch nicht quantifizieren.
Entlastung für Sozialwerke
Das Sparpotenzial bestätigt auch Stefan Jallard, Berater für alternative Eingabesysteme bei der Stiftung für elektronische Hilfsmittel (FST). Er empfiehlt häufig die Eingabehilfen des Betriebssystems, spezielle Hard- oder Software kommen erst zum Einsatz, wenn die eingebauten Mittel nicht ausreichen. «Nicht gelöst ist die kognitive Seite», sagt Jallard: Für ältere Benutzer oder geistig Behinderte ist Software oft zu komplex. Als Lösungsansatz sieht Jallard das Konzept von QualiLife: Das Unternehmen aus Lugano entwickelt ein Tool, das den Desktop vereinfacht.
Beat Kleeb, Präsident der Procom, der Stiftung Kommunikationshilfen für Hörgeschädigte und selbst gehörlos, weist auf die Zunahme von Videos im Web und auf CD-ROMs und die Probleme für Hörgeschädigte hin: «Es ist notwendig, alle akustische Information auch visuell darzustellen. Wie in dem Multimedia-Lexikon ‹Encarta›, bei dem Videos untertitelt sind.» Ein Accessibility Feature, das auch ausserhalb seiner Zielgruppe Zuspruch findet. «Ehrgeizige, superkompetitive Spieler sagten uns, die Töne seien eine zu grosse Ablenkung und schätzen Untertitel», sagt Madelyn McIntire von Microsoft.
Ähnlich profitiert hat die Allgemeinheit schon früher: Alexander Graham Bell, der Vater des Telefons, wollte eigentlich ein Hörgerät entwickeln.
BILD ROETTGERS/GRAFITTI/IMAGES.DE
60 Prozent der Computeranwender profitieren von Funktionen wie vergrösserter Bildschirmdarstellung.