Macromedia Freehand MX

Macromedia hat fette Karnickel in Hut und Ärmel

Das grösste Verdienst von Freehand MX ist das Objekt-Bedienfeld: Es beweist, dass kreative Grafikprogramme in der Bedienung noch viel intuitiver werden könnten.

MATTHIAS SCHÜSSLER Martin Riefenstahl ist Senior Sales Engineer von Macromedia Central Europe und enthusiastischer Softwarepräsentator, und er reagierte mit einem breiten Grinsen auf meine Frage. Kein Zweifel, der Mann hatte ein fettes Karnickel im Ärmel. Ob Freehand ein Vektorillustrationsprogramm oder eine Layoutsoftware sei, hatte ich wissen wollen. Ein gefundenes Fressen für den Mann von Macromedia: Mit einem kleinen Tritt ans Schienbein des Adobe-Konkurrenten («Wie viele Seiten können Sie in Illustrator bearbeiten?») leitete er die Vorführung eines der neuen Features von Freehand MX ein: die Masterseiten. Freehand MX kann bis zu 32 000 Seitenvorlagen in einem Dokument unterbringen. Nicht nur das; die Masterseiten in Freehand profitieren von dem starken Konzept aus Flash, welches eine enge Bande zwischen Musterobjekt und den davon abgeleiteten Objekten knüpft. Man kann sich eine Masterseite wie das Symbol in Flash vorstellen. Hat man die Vorlage wunschgemäss erstellt und in der Bibliothek untergebracht, erzeugt man bei deren Verwendung eine Instanz, indem man eine neue Seite, basierend auf dem Master anlegt, oder einer bestehenden Seite eine Vorlage zuweist. Die enge Verwandtschaft zwischen Master- und davon abgeleiteten Dokumentseiten ist überaus produktivitätssteigernd. Auch weit gehende Veränderungen am Master wirken sich unmittelbar aufs Dokument aus, wobei individuelle Veränderungen an Master-Objekten erhalten bleiben. Selbstverständlich lassen sich in der Bibliothek nicht nur Seiten, sondern auch Logos oder Textelemente unterbringen.

Grosse Briefschaft, ein Dok

Freehand kann nicht nur mehrere Seiten innerhalb eines Dokuments verwalten, sondern auch verschiedene Seitengrössen. Das nützt eher Grafikern und Illustratoren als Layoutern, denn mit dieser Möglichkeit lassen sich Drucksachen kunden- oder projektbezogen in einer einzigen Datei unterbringen, beispielsweise verschiedene Designstudien oder Briefpapier, Faxformular, Visitenkärtchen und Couvert. Oder auch Plakate in jeder Grösse – Freehand kann auch Dokumente von 25 Quadratmetern bearbeiten. Und mit der Druckeinstellung «Nebeneinander» lässt sich ein solches «Monsterdokument» für den Druck auch auf mehrere Seiten verteilen.

Was beim ersten Start der neuen MX-Fassung auffällt, ist die Objektpalette. Dieses Bedienfeld zeigt kontextsensitive Einstellungsmöglichkeiten, also vom gewählten Element abhängige Optionen. Die Idee ist wahrlich nicht neu, aber in der Umsetzung von Macromedia beweist sie ihren überlegenen Nutzen. Der «Freihandzeichner» kann für das eigentliche kreative Arbeiten die allermeisten Paletten vom Bildschirm verbannen, notwendig sind nur die Werkzeugpalette und die Objektpalette. Mit Ersterer werden Grafikobjekte erstellt, mit Letzterer angepasst – eine sinnvolle Aufteilung, welche das mühselige Hervorsuchen der passenden Palette überflüssig macht, die in anderen (Adobe-)Programmen gang und gäbe ist.

Weniger klicken, schneller formatieren

In der oberen Hälfte des zweigeteilten Fensters sind der Typ des markierten Objekts ersichtlich sowie die angehängten Attribute. In der unteren Hälfte der Objektpalette editiert man das Objekt oder seine Attribute. Ist also beispielsweise eine Ellipse markiert, dann braucht man in der Objektpalette nur den Eintrag «Ellipse» zu markieren, um deren Position oder Masse numerisch zu bearbeiten. Ist die Ellipse mit einer Füllung, einer Strichangabe (Kontur) oder einem Effekt ausgestattet, kann diese in der Attributliste der Objektpalette ausgewählt (und ggf. auch gelöscht) und in der unteren Fensterhälfte bearbeitet werden. Markiert man eine Bitmapgrafik mit Alphakanal, lässt sich über die Objektpalette steuern, ob dieser als Transparenz (Freisteller) in Erscheinung treten soll oder nicht. Ist ein Text­element selektiert, erscheinen Text, Absatz- und Spaltenoptionen und die Liste mit den Absatzformaten.

Dank der Objektpalette mit ihrer übersichtlichen Gliederung von Grafikobjekt und Attributen konnten die Macromedia-Entwickler eine Funktion in Freehand MX einbauen, die man in keinem anderen Vektorgrafikprogramm findet: Einem Grafikobjekt kann nicht nur eine Füllung und eine Strichformatierung zugewiesen werden, sondern mehrere. Ein Pfad darf also sowohl eine dünne schwarze als auch eine dicke, rot gepunktete Linie aufweisen. Oder eine kalligrafische und gleichzeitig eine normale Kontur. Besonders hilfreich ist diese Möglichkeit für die Bekämpfung von Blitzern: Um diesen störenden Effekt zu vermeiden, weist man einem Element eine zusätzliche, als überdruckend definierte Kontur in der Hintergrundfarbe zu.

Organisches Instrument

Macromedia hat die Werkzeugpalette von Freehand MX mit dem Freihandwerkzeug erweitert. Mit ihm lassen sich Kurven leichter bearbeiten als mit dem Bézier-Werkzeug: Es arbeitet weniger geometrisch als vielmehr «organisch». Der Benutzer braucht nicht einzelne Knoten zu bearbeiten, sondern packt die Linie an einer beliebigen Stelle und schiebt resp. zieht die Kurve zurecht oder dellt sie mit einer Kreisform aus.

Die neue Version des Vektorprogramms betreibt obendrein auch ordentlich Effekthascherei: Ein neues Extru­sionswerkzeug erlaubt es, Texten oder Umrissformen Tiefe zu verleihen. Die Funktion erinnert sehr an CorelDraw, ebenso das Mischwerkzeug, das eine gewisse Verwandtschaft mit der «interaktiven Überblendung» hat.

Auch den Radierer hat man in Corel schon gesehen, ebenso die «Live-Bearbeitung» von Grafik-Primitiven. Dies besagt, dass sich Modifikationen an Rechtecken, Kreisen, Spiralen, oder Stern-, resp. Polygonformen ohne Umweg über ein Dialogfeld direkt per Maus durchführen lassen: Man wählt das «Teilauswahl»-Werkzeug und kann damit die Ecken von Rechtecken abrunden, aus Kreisen Segmente ausschneiden, Dreiecke symmetrisch ein- oder ausdellen oder Sterne verdrehen. Die symbolbasierten Sprühformen, bei denen sich Blätter oder geometrische Formen entlang des Pfades auftragen lassen, kennt man hingegen aus Illustrator: Echte Innovationen für Vektorgrafikprogramme zu finden, ist kein Zuckerschlecken – immerhin hat Macromedia sich von den richtigen Features «inspirieren» lassen.

Das gilt auch für die Transparenz, die jetzt als Füllung zur Verfügung steht: Dazu als Fülltyp «Linse» und «Transparenz» auswählen. Die Linsenfunktion bietet neben der Transparenz weitere Optionen, darunter u. a. «umkehren», «aufhellen» oder «vergrössern». Schade, dass man bei der letzten Option nur gerade Vergrösserungsstufen wählen kann: Eine Verdoppelung ist in vielen Fällen schon zu gross.

Effekte unter Kontrolle

Wirklich gelungen ist die Zuordnung von Effekten über die Objektpalette; zur Auswahl stehen Biegen, Skizzieren, Krümmen und ebenso Transformieren und Rastereffekte wie Abschrägung, Weichzeichnen, Transparenz, Glühen, Prägen und weitere.

Originell und unseres Wissens in keinem anderen Programm vorhanden ist die Möglichkeit, ein Objekt per Maus zu verwischen oder einen Schatten werfen zu lassen: Einfach das Element mit dem Zeigegerät anpacken und per Ziehen Richtung und Distanz vorgeben.

Neu ist auch das Perspektivenraster, das beim Zeichnen von korrekten räumlichen Szenen hilft, indem Objekte automatisch an den Fluchtlinien einrasten (der Autor glaubt, dieses Feature in Micrografx Designer gesehen zu haben, würde das aber nicht beschwören). Das Perspektivenraster könnte intuitiver sein. Das entsprechende Werkzeug bewirkt erst einmal gar nichts; erst, wenn man über Einblenden das Raster aktiviert, lässt sich das Feature benützen. Im gleichen Menü benützt man den Befehl «Definieren», um die Zahl der Fluchtpunkte und die Rasterzellengrösse vorzugeben. Ist das Raster sichtbar, können mittels Perspektivenwerkzeug der/die Fluchtpunkt/e in Position gezogen werden.

Um Objekte am Perspektivenraster zu befestigen, zieht man sie mit dem gleichen Werkzeug in Position und gibt mittels Pfeiltasten und, ohne die Maustaste loszulassen, vor, auf welcher Fluchtebene das Objekt platziert werden soll. Das muss man erst einmal üben, aber schliesslich gilt es, gleich drei Dimensionen in den Griff zu bekommen.

Die Qual der Wahl ist gross

Im Vergleich zu Illustrator hat Freehand MX die Nase vorn; die Funktionspalette ist breiter und in Sachen Performance liegt Macromedia seit vielen Versionsnummern vorn. Das macht Freehand nicht automatisch zur besseren Wahl. Da Macromedia kein Layoutprogramm im Sortiment hat, macht es Sinn, Freehand beizubringen, Dokumente mit mehr als einer Seite zu bearbeiten. Adobe hingegen hat keine Veranlassung, Illustrator mit Möglichkeiten auszustatten, die in InDesign besser aufgehoben sind.

Aus Sicht der Anwender hat diese unterschiedliche Ausrichtung sein Gutes: Wer nicht gern von einem Programm zum anderen wechselt, sondern alles im gleichen Tool erledigt, ist mit Freehand besser bedient. Benutzer von Quark oder InDesign könnten hingegen durchaus schätzen, wenn das Illustra­tionsprogramm illustrieren kann – und sonst nichts. Für Adobes Programm spricht etwa die «Ausrichten»-Palette oder die Pathfinder-Befehlssammlung. Es gibt auch gute Gründe für Corel 11 – bei den interaktiven Effekten kann kein Konkurrent den Kanadiern das Wasser reichen. Und auch Corel hat einen Objektmanager; der Eigenschaftenverwaltung und -bearbeitung zwar nicht so elegant integriert wie Macromedia, sich in Sachen Bedienerfreundlichkeit aber keinesfalls zu verstecken braucht. CorelDraw ist und bleibt unsere Empfehlung für Gelegenheitsvektorgrafiker und Neueinsteiger, die mit diesem Produkt am schnellsten auf einen grünen Zweig kommen.

Web? Freehand!

Man kann die Frage Illustrator oder Freehand auch anders beantworten: Prepress oder Web? Macromedia könnte Freehand zum Layoutprogramm entwickeln; gerade die neue flexible Verwaltung der Masterseiten beweist, dass Freehand das Zeug dazu hat. Trotzdem ist Martin Riefenstahls Enthusiasmus zu relativieren: Macro­media wird diesen Weg aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einschlagen, und bislang ist Freehand kein ausgewachsenes DTP-Programm. Um InDesign oder QuarkXPress obsolet zu machen, sind die Möglichkeiten im Bereich der Formatvorlagen oder bei der Konturenführung zu mager; und es fehlen Features wie der Tabellensatz oder die automatische Erstellung von Inhaltsverzeichnissen.

Wer ausschliesslich oder teilweise fürs Web produziert, dem bietet Macromedia einen nahtlosen Workflow: Durch die Verwendung von bewährten Flash-Konzepten wie Symbol oder der Bibliothek sind Freehand-Illustrationen prädestiniert für die Ausgabe nach Flash – zumal der Export simpel ist, Freehand-Dokumente direkt in Flash MX geöffnet werden können und sich via Aktionswerkzeug eine Flash-Navigation im Nu per Maus zusammenschustern lässt. Anwender, die sich in der Produktefamilie von Macromedia heimisch fühlen, brauchen keinen Gedanken an Illustrator oder Corel zu verschwenden: Freehand MX ist für diese Gruppe ein lohnendes Update.

Allen anderen Anwendern bleibt die Qual der Wahl. Im Bereich der Vektorgrafikprogramme gibts auch weiterhin keinen Platzhirsch.

Hokuspokus: Freehand MX bringt eine aufgeräumtere Arbeitsoberfläche und Features, die man teils schon anderswo gesehen hat.

Das kann nur Freehand: Mit diesem Pfad sind drei Konturenattribute verbunden.

Je nach gewähltem Objekt resp. Objektattribut zeigt Freehands Objektpalette die passenden Einstellungsmöglichkeiten.

Flash lässt grüssen: In der Bibliothek werden Masterseiten abgelegt, die per Maus den Seiten im Dokument zugewiesen werden können.

Wenn die Vektorblätter spriessen: rechts unten die neue Symbolsprühform in Freehand, oben die Efeublätter, die Adobe Illustrator hat wachsen und gedeihen lassen.

Wahlverwandtschaften: Auch Corel 11 hat einen Objektinspektor zu bieten.

Quelle: Publisher, Dienstag, 22. April 2003

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Thema: Web-Publishing
Nr: 5030
Ausgabe: 03-2
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