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Liebestaumel, online entfacht

Von Matthias Schüssler

Liebesbeziehungen, die ihren Anfang im Internet nahmen, sind mindestens so beständig, wie wenn IRL (Chatslang für «in real life»; d. h. «im richtigen Leben») angebandelt wurde. Zu diesem Schluss kommt der britische Psychologe Jeff Gavin: Wer im Internet verkehrt, dem geht es selten bloss um Sex.

Weitere vorgefasste Meinungen über die Onlinepartnerjagd bedürfen der Revision: Nicht bloss Verklemmte und reizlose Menschen suchen die Liebe im Internet, nein, jedermann tut es. Als Austragungsort für die seltsamen Aktivitäten geschlechtsreifer Zeitgenossen hat das Web der Disco den Rang abgelaufen und belegt nach Arbeitsplatz und Partys den dritten Platz.

Während Bindungswillige ebenso wie Abenteuerlustige Geschmack an digitalen Liebeleien finden, verfolgen die Gelehrten neue Forschungsansätze. Die Frage, ob das Internet seine Nutzer in die Vereinsamung treibt, ist Schnee von gestern. Inzwischen freuen sich Kommunikationswissenschaftler ob der «bemerkenswerten Renaissance des Schriftlichen» und legen dar, dass das Web die «Flirtkompetenz» schule und ein «soziales Lernfeld» biete.

In der Tat: Am Anfang ist das Wort, besagt das Flirtgesetz des Cyberspace. Wer sich in einen Chatraum wagt, um jemanden näher kennen zu lernen, muss eventuell feststellen, dass altbewährte Trümpfe hier nicht stechen. Drum seis gesagt, liebe Tussis: Vergesst den tiefen Ausschnitt, niemand kriegt ihn zu Gesicht. Und du, Adonis und Eins-A-Machomann, es ist nichts damit gewonnen, den wortkargen Wolf zu geben. Du wirst die Beute nicht allein durch maskuline Ausstrahlungskraft erlegen; online musst du in der Lage sein, den einen oder anderen intelligenten, charmanten Satz zu tippen. Als körperloses Wesen hat jeder Chatter nur seine Tastatur und kommt nicht umhin, sich tiefer in die Karten blicken zu lassen – und in die Seele.

Als kommunikativer Mensch kann man davon nur begeistert sein. Wie schön, dass die wie selbstverständlich mit dem Internet aufwachsende Jugend lernt, allein mit Worten zu verzücken, und im Sympathiefall weiss, sich auf selbigem Weg gegenseitig die Lenden in Brand zu stecken. Diese Flirtkompetenz wird auch IRL die zwischenmenschlichen Interaktionen bereichern. «Im Chat können Menschen verborgene Qualitäten ausspielen», sagt Kommunikationswissenschaftlerin Nicola Döring. Wer hätte das gedacht, von einem Medium, das von vielen immer nur als Hort von Ausschweifung, Pornografie und Perversion wahrgenommen wird.

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 17. Juni 2002

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Thema: Monitor
Nr: 4070
Ausgabe: 02-617
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