Der Abschied vom Zelluloid

Die Digitaltechnik ist daran, eine der letzten Analog- Bastionen zu erobern: die Fotografie.

Von Matthias Schüssler

Für einmal müssen keine Marktzahlen bemüht werden, um einen Trend zu belegen. Die Ablösung herkömmlicher Kameras durch digitale Modelle kann jedermann beobachten, der ambitionierte Hobby-Fotografen in seinem Bekanntenkreis hat. Auf Ferienreisen, an Grillpartys oder Hochzeiten werden keine 35-Millimeter-Filme mehr belichtet. Stattdessen zückt der Fotograf vom Dienst eine Nikon Coolpix, Sony Cybershot, Canon Powershot, Fuji Finepix oder Olympus Camedia und bannt Impressionen auf eine Speicherkarte. Während im professionellen Bereich die Digitaltechnik nicht mehr wegzudenken ist, verabschieden sich jetzt die Privaten vom Zelluloid.

Nur zahlenmässig im Hintertreffen

Die Zahlen der deutschen GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) belegen den Trend. Zwar werden noch immer deutlich mehr herkömmliche Apparate abgesetzt (64% gegenüber 36%). Im laufenden Jahr macht die Branche zum ersten Mal mehr Umsatz mit Digital- (58%) als mit Analogkameras (42%). Beim Hersteller Nikon, dessen Coolpix-Modelle zu den beliebtesten Digitalkameras in der Schweiz gehören, glaubt man indes nicht an das schnelle Ende der chemischen Fotografie. Die Benutzer billiger Kompaktkameras zeigen gemäss Nikons Marketingleiter Marco Rosenfelder kaum Umstiegsbereitschaft. Hingegen ortet man bei Nikon grosses Interesse bei den Leuten, die nicht bloss drauflosknipsen würden, sondern ein Flair für die technischen Aspekte haben und Computer und Internet nutzen. Diese Gruppe lässt sich auch von hohen Gerätepreisen nicht abschrecken.

Laut Rosenfelder verkaufen sich gerade die teuren Kameras mit Preisen um die zweitausend Franken im Augenblick bestens, während in der vorherigen Verkaufsperiode eher mittelpreisige Modelle gefragt gewesen seien. Viele Anwender finden den Einstieg über ein Modell, das vom Arbeitgeber zu beruflichen Zwecken angeschafft wurde, dann auch wiederholt privaten Einsatz findet: «Beispielsweise kommen viele Ärzte auf diesem Weg zu einer Digitalkamera», so Rosenfelder.

Eine Digitalkamera ist nicht zuletzt auch ein Statussymbol. Wer digital fotografiert, gilt als Trendsetter, der die Aufmerksamkeit des Publikums auf Sicher hat, wenn er eben gemachte Fotos am Kamera-Display oder an einem angeschlossenen Fernseher zeigt.

Protzen mit Pixeln

Auch der Ehrfurcht einflössende Begriff «Megapixel» ist geeignet, technische Aufgeschlossenheit zu signalisieren. Er bezeichnet die Auflösung der Fotos und ist ein wichtiges Merkmal für die Qualität der Bilder. Den Megapixel-Wert vermerken die Hersteller gross am Gehäuse: Jedem technischen Laien ist augenblicklich klar, dass die Kamera umso besser sein muss, je höher die Megapixel-Zahl.

Nüchtern betrachtet, bieten die aktuellen Topmodelle genügend «Megapixel-Reserven» für die halbprofessionelle Anwendung – 3,3 Megapixel sind genug: Abzüge auf Fotopapier in den üblichen Formaten lassen sich nicht von einem traditionellen Foto unterscheiden. Die Bilder der ersten Consumer-Kamera mit 5-Megapixel (Minolta Dimâge 7) sind detailreich genug, um drucktechnisch im A3-Format reproduziert zu werden.

Zu steigenden Verkaufszahlen tragen auch die vielen ausgemerzten Kinderkrankheiten bei: Während frühere Modelle so viel Energie verbrauchten, dass der Fotograf hauptsächlich mit dem Batteriewechsel beschäftigt war, hält sich der Strombedarf bei aktuellen, meist mit Lithium-Ionen-Akku ausgestatteten Modellen in erträglichen Grenzen. Die Hersteller konnten lange Bild-Speicherzeiten reduzieren, sodass einige Kameras auch Bilderserien fotografieren können.

Knackpunkt Schnappschüsse

Wer gern Schnappschüsse macht, der schenkt dem Wert der Aufnahmeverzögerung besonderes Augenmerk – also der Zeit, die zwischen dem Drücken des Auslösers und der Aufnahme verstreicht. Einzelne Modelle warten hier mit bis zu einer Sekunde auf, was Sportaufnahmen fast unmöglich macht. Besser (im Bereich von zwei Zehntelsekunden) sind Kameras, die nicht nur ein Display haben, sondern auch einen optischen Sucher: Die Nikon Coolpix 995 reagiert beispielsweise nur bei abgeschaltetem Bildschirmchen ausreichend schnell, d. h. ohne subjektiv erkennbare Verzögerung.

Im Zusammenspiel mit dem Computer hat sich vieles zum Besseren gewendet: Der USB-Anschluss am PC oder Mac ist inzwischen Standard und erlaubt unkompliziertes Übertragen der Bilder auf die Festplatte. Ferner hängt an vielen Rechnern ein CD-Brenner – er ist nützlich für die Archivierung, und mit der passenden Brennsoftware lassen sich CD-Diashows kreieren, die sich mit jedem DVD-Player, also auch ohne Computer, ansehen lassen.

Gleichberechtigung

Wesentlich für die Akzeptanz ist schliesslich der Umstand, dass auch die Fotogeschäfte auf die Digitaltechnik einschwenken. Nachdem sich die Branche lange Zeit zögerlich gebärdete, bietet sie nun auch die neuen Kameras an. Nicht nur das; wie eine Umfrage im Raum Zürich zeigt, machen die meisten Fotogeschäfte auch Abzüge von digitalen Daten. Dank dieser «Gleichberechtigung» brauchen Digitalfotografen weder aufs Fotoalbum noch auf Abzüge zuhanden der Verwandt- und Bekanntschaft zu verzichten. Auch der lästige Zwang, Bilder am PC-Monitor betrachten zu müssen, ist passé.

Die meisten Fotogeschäfte nehmen Bilder entweder per E-Mail oder Datenträger an, einige verarbeiten sogar Speicherkarten direkt aus der Kamera, was das Versenden per Mail oder ein Übertragen auf Diskette oder CD überflüssig macht. Preise und Lieferfristen variieren allerdings stark; es braucht unter Umständen mehrere Testläufe, um das «Fotogeschäft seines Vertrauens» zu finden.

Die grossen Fotolabors verarbeiten elektronische Fotos zu den gleichen Konditionen wie herkömmliche Filmrollen. Mit einem kleinen Geschwindigkeitsgewinn für ungeduldige Bilderfans: Weil die Daten per Internet ins Labor gelangen, fällt ein Postweg weg. Überdies lässt sich der Auftrag jederzeit starten und nicht erst dann, wenn endlich der Film voll ist.

BILDER PD/MONTAGE TA

Bild-Chip löst Filmrolle ab: Die Amateurfotografen haben die Digitaltechnik im Auge.

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 17. September 2001

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Nr: 3555
Ausgabe: 01-917
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