Überschätzte Lara Croft

Von Matthias Schüssler

In der Schweiz läuft in dieser Woche «Tomb Raider» an. Bemerkenswert an diesem Actionstreifen ist, dass die Hauptdarstellerin eine aus einem Computerspiel bekannte Figur verkörpert: Angelina Jolie ist Lara Croft; ein digitaler Traum erwacht zu cineastischem Leben.

Diese Ausgangslage war manchen Journalisten Anlass, über das Verhältnis von Film- und Game-Industrie nachzudenken. Des passiven Zuschauens überdrüssig, würde der Mensch den Kinosälen fernbleiben und sich lieber mit Kampf-, Renn- oder Abenteuerspielen vergnügen, besagten Journalisten-Spekulationen. Und eine ursprünglich provokativ gemeinte Prognose wurde in aller Ernsthaftigkeit kolportiert: Hollywood würde bald nur noch mit staatlichen Subventionen überleben können, weil Kinogänger in Scharen zu Konsolen-Zockern mutierten.

Das ist selbstverständlich blanker Unsinn. Die Vermutung basiert darauf, dass die Spiele-Industrie in den letzten Jahren stetig an Umsatz zulegte und im Jahr 2000 mehr Einnahmen generierte als die Hollywood-Studios. Dieser Umsatzvergleich besagt, dass Computerspiele von der breiten Bevölkerung als Unterhaltungsmöglichkeit wahrgenommen werden – mehr aber auch nicht.

Wer jemals selbst Lara Croft durch eins der «Tomb Raider»-Abenteuer steuerte, hat das Handeln-Müssen stellenweise als Pein erlebt: Solange ein Hindernis nicht genommen ist, geht die Geschichte nicht weiter. Mitunter ist es äusserst frustrierend, stets an derselben Stelle zu scheitern. Nicht jedermann hat so eine reaktionsschnelle Hand am Joystick, wie die Spiele-Erfinder es erwarten. Gamen ist Konzentration, ist Reaktionsschnelle, ist Repetition, ist harte Arbeit.

Sitzt man im Kinosessel, geht die Geschichte ohne eigenes Zutun voran. Die Hände können sich dem Popcorn widmen, und der Geist ist frei, der Story zu folgen oder sich in ein Paralleluniversum zu verflüchtigen. Games sind keine Gefahr, so lange Filmemacher packende Geschichten über ungewöhnliche Figuren erzählen. Wie sollte es jemals einem Computerspiel gelingen, den Spieler in einen Plot shakespeareschen Zuschnitts zu verwickeln oder glaubhaft von den Irrungen des Herzens zu berichten?

Interaktion ist eine gute Sache, aber ihretwegen gewöhnt sich der Mensch nicht eine seiner liebsten Gewohnheiten ab: Sich in aller Faulheit hinzusetzen und nichts zu tun als zu konsumieren.

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 25. Juni 2001

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Nr: 3618
Ausgabe: 01-625
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