Wie man seinen Cybersenf dazugibt

Besondere Programme erlauben es den Surfern, Statements zu jeder Website im Netz abzugeben: hinter dem Rücken der Betreiber.

Von Matthias Schüssler

Das Internet ist ein Massenmedium mit besonderen Spielregeln. In mancher Hinsicht wirken die Naturkräfte des World Wide Web geradezu anarchistisch. Stichwort Mitspracherecht: Gehör zu finden, ist kein Privileg weniger Meinungsmacher mehr – das Datennetz gibt jedem einzelnen engagierten Websurfer ein fast ebenso lautes Sprachrohr in die Hand. Einige Anbieter haben sich auf diese Kräfteverschiebung eingestellt und bieten den Besuchern von sich aus ein Forum für Kommentare, Statements oder Korrekturen. Die deutsche taz erlaubt es Online-Lesern, Artikel zu kommentieren – die Meinungen der Leser erscheinen gleichberechtigt direkt im Anschluss an den Ausgangstext. Diese Freiheit räumt auch das grosse amerikanische ZDNet den Surfern ein – beim Dauerbrenner «Netscape gegen Microsoft» ist allein die Auflistung aller Statements länger als der Artikel selbst. Und Newsanbieter Heise.de musste sich kürzlich über den korrekten adjektivischen Gebrauch von Schweizer Städtenamen belehren lassen, als er zur Orbit-Eröffnung von der «Baseler Messe» sprach.

Schlagabtausch über Gore und Gates

Aber auch Web-Publizisten, die auf ihrer Homepage kein Forum für die Surfer einrichten, werden – hinter ihrem Rücken – kommentiert, kritisiert oder widerlegt. Möglich wird dies durch Zusatzprogramme, die zu jeder einzelnen Web-Adresse ein Diskussionsforum bieten, in dem sich jeder registrierte Benutzer zu Wort melden kann. Der Trick dabei ist, dass diese Zusatzprogramme die WebAdresse der angesurften Site an einen Diskussionsserver übermitteln. Diese unabhängigen Server verwalten «die Stimmen des Volkes» und blenden die Voten parallel zu den eigentlichen Web-Seiten ein – bei jedem Benutzer eines solchen Programms, der die Seite besucht. Zwei Vertreter solcher «Metabrowser» sind uTok und ThirdVoice. Ihre Benutzer können eigene Diskussionen lancieren oder sich in einen bereits laufenden Schlagabtausch einmischen. Die einzelnen Themenrunden erscheinen als Einträge in einer Liste. Klickt man auf ein Thema, zeigt das Programm die bisher veröffentlichten Beiträge an.

Kritik an den Mächtigen

Eine kleine Surftour stützt die nahe liegende Vermutung, dass vor allem die Internetbastionen der Reichen und Einflussreichen im Kreuzfeuer der Surferkritik stehen. Unter www.whitehouse.

gov finden sich Statements vor allem zu den bevorstehenden Präsidentenwahlen, aber auch zur Sozialpolitik. IT-Branchenriese Microsoft muss sich eine Menge Kritik gefallen lassen: Surfer machen sich Luft über zu teure Software und äussern sich zur Frage, ob Microsoft in mehrere Firmen aufgespalten werden soll. Konkurrent Apple erhält grundsätzlich mehr Lob, wird aber wegen der Internetsoftware kritisiert und aufgefordert, das Betriebssystem Mac OS X auf den PC zu portieren. uTok bietet neben den Diskussionen auch «Polls». An solchen Meinungsumfragen kann ein uTok-Mitglied nicht nur teilnehmen – er kann sie auch selbst starten. Auch ThirdVoice hat ein «Schmankerl» zu bieten: Es blendet eigene, orangefarbige Links auf den Web-Seiten ein. Auf der Tagi-Homepage führen solche direkt zu der Biografie von Slobodan Milosevic oder zu einem Hotelführer der Stadt Zürich – beeindruckend, wie viele Stichworte ThirdVoice kennt!

Wie nicht anders zu erwarten, sind nicht alle Besucherbeiträge ernsthaft, seriös oder anständig formuliert. Da keine redaktionelle Auswahl oder Bearbeitung erfolgt, tauchen auch nicht nachvollziehbare, gehässige oder gar ehrverletzende Äusserungen in den Diskussionssträngen auf. Grundsätzlich bemühen sich die Diskussionsteilnehmer aber um einen konstruktiven Umgangston; unanständige Votanten werden meist umgehend aufgefordert, sich zu mässigen. Obwohl die Benutzerzahlen bei uTok und ThirdVoice noch klein sind – Schweizer sind offenbar noch fast keine unter den Benützern, denn es gibt nur wenige Diskussionen zu Schweizer Sites -, ist diese Form der freien Meinungsäusserung ernst zu nehmen: Wer das Internet als Medium für seine Veröffentlichungen wählt, kann nicht darauf zählen, in seinen Ansichten unwidersprochen zu bleiben.

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Die Stimme des Volkes zur Website des Weissen Hauses: «Schosshund» Al Gore und Sozialversicherungen.

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Meinungsumfrage zu Apple: Per Mausklick die Meinung äussern.

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 9. Oktober 2000

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Thema: Zweitgeschichte
Nr: 613
Ausgabe: 00-1002
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