Illustrator 8: «Wieso nicht schon früher?»

Illustrator 8 kommt definitiv: Nachdem wir in der letzten Nummer erst über die Features der neuen Venus-Version spekulieren konnten, dürfen wir Sie jetzt mit erhärteten Tatsachen konfrontieren. Hilfreiche, lang vermisste Funktionen, viele aus Photoshop und PageMaker vertraute Reiterpaletten und neue Gestaltungswerkzeuge machen das Update erwägenswert.

«Wieso nicht schon früher?» – Nur schwer lässt sich dieser Stossseufzer unterdrücken, nachdem einem zum ersten Mal das «Frei transformieren»-Werkzeug untergekommen ist. So elementare Arbeitsschritte wie Skalieren, Drehen und Verzerren gehen mit diesem Werkzeug wunderbar einfach von der Hand. Markiert man ein oder mehrere Objekte und wählt das «Frei transformieren»-Werkzeug, erscheint ein Begrenzungsrahmen mit acht Anfassern, welche die Auswahl einfassen. Packt man einen der Anfasser, lässt sich die Auswahl in die gewünschte Richtung dehnen oder stauchen, klickt man auf die Linie des Begrenzungsrahmens, darf man die Auswahl drehen. Hat man einen Anfasser in einer der vier Ecken gepackt und drückt zusätzlich die Kontrolltaste, kann man die Auswahl perspektivisch verzerren. Wählt man einen Anfasser auf Linienmitte und benutzt die Kontrolltaste, dann bewirkt die Bewegung mit der Maus ein Neigen der gewählten Objekte. Natürlich kann wie gewohnt die Shift-Taste hinzugezogen werden, um die Transformationen zu beschränken: Auf eine Skalierung mit gleich bleibendem Seitenverhältnis, auf eine Drehung in 45°-Schritten u.Ä. Der erwähnte Begrenzungsrahmen ist auch beim Arbeiten mit dem Auswahlwerkzeug (dem schwarzen Pfeil) vorhanden, sodass das Skalieren jederzeit möglich ist.

Leicht und natürlich die Kurve kriegen: die neuen Pinsel/Stifte

Die Zeichenstifte und Pinsel haben eine neue Verhaltensweise beigebracht bekommen, die vielen Anwendern, welche es gewohnt sind, mit Papier und Bleistift umzugehen, vermutlich ein weiteres «Wieso nicht schon früher?» entlocken wird: Zieht man mit Stift oder Pinsel eine Linie entlang einer bestehenden, markierten Kurve, dann wird die ursprüngliche Kurve anhand der neu gezeichneten modifiziert (die neue Kurve verschwindet daraufhin). Man kann also einzelne Bereiche einer bestehenden Linie oder die ganze Linie einfach neu zeichnen, indem man an der gewünschten Stelle nochmals ansetzt. Eine echte Innovation!

Weg mit Dellen und Falten!

Man ist nicht mehr gezwungen, den Schwung der Kurve, den Verlauf, gleich beim ersten Mal richtig hinzukriegen (was einem als Illustrator-Novize sowieso nie gelang). Illustrator verzeiht einem eine missratene Ecke, einen holprigen Übergang, einen ungewollten Schlenker oder einen verpassten Endpunkt grossherzig. Auf diese Weise kann man die richtige Form suchen; sich von einer groben Skizze an die definitive Form «herantasten». Und das alles, ohne an den Ankerpunkten herumzudoktern – eine wunderbare Funktion! Ein bisschen gewöhnungsbedürftig, denn erstmals wird man unfreiwillig Kurven korrigieren, weil man beim Zeichnen einer neuen Kurve im «Sensibilitätsbereich» einer bestehenden Linie angesetzt hat. Mit der Zeit gewöhnt man sich jedoch an, wenn eine Kurve gelungen ist, schnell die Tastenkombination für das Entfernen der Auswahl zu betätigen, und dann passiert’s nicht mehr.

Weitere Zugänge in der Werkzeugkiste: der Glättungsstift zum selektiven Besänftigen von Ecken und Kanten und ein Radierwerkzeug.

Treffsicher bei der Direktauswahl

Apropos Ankerpunkte: Eine weitere praktische Neuerung findet sich beim Arbeiten mit dem Direktwahl-Werkzeug. Falls Sie auch immer Mühe haben, die kleinen Ankerpunkte zu treffen, dann werden Sie sicherlich angesichts dieser schönen kleinen Funktion «Wieso nicht schon früher?» murmeln: Sobald sich der Mauszeiger über dem Ankerpunkt befindet, erscheint ein kleines Rechteck am unteren Ende des Direktwahl-Pfeils.

«Und Action …!»

Ein weiteres Hammer-Feature ist sicherlich die Actionpalette. Man hat sie ja schon in Photoshop kennen und schätzen gelernt und wird sie ganz ohne Frage auch in Illustrator gut gebrauchen können. Die Funktionsweise ist absolut vergleichbar mit der der Photoshop-Aktionspalette. Bei einem ersten Test haben wir allerdings festgestellt, dass längst nicht alle Aktionen aufgezeichnet werden. Die allermeisten Werkzeuge (Stifte, Pinsel, Text) finden keinen Eingang in die Aktion. Falls Sie eine Aktion aufnehmen, sollten Sie wann immer möglich die Funktion übers Menü aufrufen, statt ein Werkzeug zu benützen (also Objekt – Transformieren – Bewegen anstelle einer Drag-und-Drop-Aktion mit dem Auswahlwerkzeug). Die Menübefehle werden in aller Regel aufgezeichnet.

Die mitgelieferten Aktionen sind zwar zahlenmässig nicht gerade umwerfend, dennoch zeigen sie schön, was alles möglich ist: 3D-Buttons, Schattenwurf, Holzmaserungen oder Marmorierung, isometrische Würfel, Stanzeffekte und anderes mehr.

Die neue Masche für Verläufe

Angesichts der vielen Spezialeffekte, die andere Programme wie FreeHand und CorelDraw zu bieten haben, wollte sich Adobe nicht lumpen lassen. Und einige Funktionen findet man sonst tatsächlich nirgendwo. So das Maschenverlaufs-Werkzeug. Mit diesem können Sie ein beliebiges Objekt in einzelne Segmente zerlegen. Diesen Segmenten können Sie dann je eine eigene Füllfarbe zuweisen. Die Übergänge zur den Nachbarfarben werden dann von Illustrator als Verläufe automatisch generiert. Sowohl das Objekt selbst als auch die einzelnen Maschen, welche durch das Werkzeug entstanden sind, können jederzeit verändert werden. Auf diese Weise lassen sich äusserst komplexe Überblendungen realisieren. Dank PostScript Level 3 werden solche Illustrationen auch annehmbar schnell gedruckt und die feinen Abstufungen kommen voll zur Geltung.

Lebendige Linien und Füllungen

Weiter kommen mit Illustrator 8 die «lebendigen Pinsel». Zum einen gibts die «Art»-Pinsel, bei denen ein beliebiges Objekt entlang eines Pfades wiederholt wird. Beispiel: Der Anwender zeichnet ein Objekt seiner Wahl, beispielsweise ein Blatt oder eine Blume. Dann kann er das Objekt in die Pinselpalette ziehen und festlegen, wie es entlang des Pfades wiederholt wird (Ausrichtung, Skalierung, Farbe). So lassen sich mit dem «Art»-Pinsel mehrere identische Blätter auf einem Stengel darstellen, die jeweils geringfügig in eine andere Richtung gedreht sind.

Der «Scatter»-Pinsel bietet die Möglichkeit, Objekte entlang eines Pfades zufallgesteuert zu verstreuen. Abstand, Grösse und Verteilung lassen sich so bestimmen, dass es aussieht, als ob sie von Hand verteilt worden wären. Die Pinsel nutzen zudem druckempfindliche Tabletts, sodass die Verstreuung der Objekte durch den Druck, mit dem der Anwender zeichnet, beeinflusst wird.

«Lebendig» heissen diese Pinsel, weil sie stets voll editierbar sind. Sie können also jederzeit den zugrunde liegenden Pfad ändern und alle Spezialeffekte werden sofort nachgeführt. Sie können also den blumigen Rand vergrössern oder verkleinern, oder die Tierspuren in eine andere Richtung lenken, wie es Ihnen beliebt. In der «Brushes»-Reiterpalette finden Sie eine Auswahl an vordefinierten Pinseln und natürlich können Sie eigene solche Pinsel hinzufügen.

Ausserdem hat Adobe die Kalligrafiepinsel verbessert und einen neuen Musterpinsel als Ersatz für die bisherige Pfadmusterfunktion ins Programm integriert.

Mehr Komfort für den Benutzer

Auch bei der Benutzerführung hat sich einiges getan. Die Flyout-Paletten der Werkzeugkiste lassen sich jetzt mittels einer kleinen «Lasche» abreissen und separat auf dem Desktop platzieren. Sicherlich praktisch, wenn man oft zwischen einzelnen Werkzeugen hin- und herwechseln muss. Die Reiterpaletten haben Zuwachs erfahren; die Actionpalette wurde bereits erwähnt. Neu ist ausserdem die Navigatorpalette, und auch für die Linienstile gibt es eine eigene Palette. Praktisch auch der mobile «Pathfinder»-Reiter: Je nach Art der Zeichnung braucht der Illustrierende diese Befehle zu häufig, als dass es praktisch wäre, sie immer aus tief verschachtelten Untermenüs hervorzu«grübeln». Ausserdem findet man den richtigen Effekt anhand der symbolischen Veranschaulichung auf der bebilderten Schalttaste sehr viel leichter als anhand einer wenig intuitiven Bezeichnung. Im Menü sind die Pathfinder-Befehle nicht mehr enthalten – erschrecken Sie also nicht, wenn Sie beim ersten Mal mit dem neuen Illustrator unter Objekte ins Leere laufen. Einfach mit Fenster – Pathfinder einblenden, die Reiterpalette sichtbar machen!

Update: Empfohlen!

Wir halten das Update auf Version 8 für ein wichtiges und möchten es allen empfehlen, die regelmässig mit Illustrator zeichnen. Es wurden brauchbare neue Funktionen implementiert und bestehende Stärken ausgebaut. Die neuen Funktionen sind, so zumindest unser erster Betatest, ausgereift und nicht blosse Effekthascherei. Illustrator wird spätestens Mitte Oktober verfügbar sein und Fr. 795.– (Einführungspreis bis 31.12., dann Fr. 995.–) kosten, das Update wird für nur Fr. 275.– zu haben sein.

• Die Aktionspalette zeichnet Arbeitsabläufe auf.

  • •Navigatorpalette: Orientierung, Verschiebung des Bildausschnitts, Zoomen.
  • Weitere neue Reiterpaletten: Pinsel, Link und Pathfinder. «Lebendige» Pinsel für das Malen entlang von Pfaden. Den Pfaden können Muster oder kalligrafische Effekte zugeordnet werden (sowohl Muster als auch Pfade bleiben editierbar).
  • Pinsel: Reagiert subtiler und erzeugt weniger Knoten, dafür natürlichere Kurven. Formen lassen sich mit dem Pinsel korrigieren, indem entlang einer bestehenden Linie eine neue gezeichnet wird. Die Linie passt sich dann automatisch an.
  • Glätten-Stift: Ein Stift zum selektiven Glätten von Formen. Überblendungen können entlang eines editierbaren Pfades erstellt werden. Der Pfad bleibt ebenso wie die beiden Endpunkte der Überblendung editierbar, Änderungen werden sofort nachgeführt.
  • Maschenverlaufswerkzeug: Wo lineare Verläufe nicht ausreichen, kann das «Gradient Mesh tool» weiterhelfen: Ein dehnbares Netz per Drag und Drop mit diversen Farben gefüllt werden.
  • Weiterreichende Formatunterstützung: Illustrator 8 öffnet und platziert Dateien aus Macromedia FreeHand 5.0, 5.5 und 7.0 sowie aus CorelDraw 5.0, 6.0 und 7.0. Beim Sichern von Illustrator-Dateien im Photoshop-Format bleiben Ebenen erhalten.
  • Intelligente Hilfslinien: Sie sind optional sichtbar und helfen bei exaktem Bewegen, Ausrichten, Verändern und Erstellen von Formen und Pfaden.
  • Pipette/Füllwerkzeug: Es lassen sich auch Textattribute aufsaugen und übertragen.
  • Registrationsfarbe: Diese wird auf allen Farbauszügen mitgedruckt. So können Anwender Beschneide- und andere Druckmarken auf jeder Druckplatte drucken.

PostScript-Level-3-Unterstützung (sanftere Schattierungen, schnelle Druckzeiten).

Mit dem Werkzeug «Freies Transformieren» lassen sich Objekte mittels eines Begrenzungsrahmens skalieren und drehen.

Der Maschenverlauf («Gradient Mesh Tool») kann für äusserst komplexe Verlaufsfüllungen verwendet werden.

Mit dem Glättungsstift lassen sich Ecken und Kanten gezielt glätten.

Die beste Funktion – der intelligente Stift/Pinsel. Sie haben eine Kurve gezeichnet, die Ihnen nicht wirklich gefällt (1). Nun zeichnen Sie den missratenen Teil mit dem Stift oder Pinsel ein zweites Mal (2) und Illustrator passt die ursprüngliche Kurve gemäss Ihrer Korrektur an (3).

Linien lassen sich mit verschiedenen Effekten ausstaffieren. Die Linie selbst bleibt stets als veränderbares Objekt erhalten, somit können Ankerpunkte jederzeit verschoben, gelöscht oder hinzugefügt werden.

Die Flyout-Paletten aus der Werkzeugleiste lassen sich nun «abreissen» und als eigene Paletten einzeln auf dem Desktop anordnen.

Die Navigatorpalette sorgt für mehr Orientierung: besonders praktisch bei der neuen maximalen Vergrösserung von 6400 Prozent.

Extrem hilfreich: die Actions, die für Automatisierungen zur Hand sind. Die Visualisierung mittels kleiner Sinnbilder hilft, die richtige «Pathfinder»-Manipulation zu verwenden.

Die platzierten Dateien sind nun mit dem «Links»-Reiter leicht zu identifizieren. Fehlende Dateien sind sofort erkannt.

Quelle: Publisher, Mittwoch, 2. September 1998

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Metadaten
Thema: Adobe Illustrator 8
Nr: 253
Ausgabe: 98-4
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