Gundetswil/Bertschikon: «Die lernen nicht einmal mehr richtig schreiben» so hiess ein Informationsabend der Schulpflege

«Die Schweizer reden Hochdeutsch, als ständen sie vor dem Lieben Gott»

Dank dem neuen Lehrplan müssen die Schüler weniger hochdeutsch sprechen, weniger Orthographieregeln büffeln und (fast) keine Diktate mehr zu Papier bringen. «Die lernen nicht einmal mehr richtig schreiben!» befürchten viele Eltern, die sich an den Sprachunterricht ihrer Schultage erinnern. Eine Informationsveranstaltung der Schulpflege Bertschikon erläuterte den Eltern die veränderten Ziele des Sprachunterrichts: gefördert werden soll ein kreativer, spielerischer Umgang mit der Sprache.

(msc) In der Schulgemeinde Bertschikon sind die Eltern wohl besser über den Schulbetrieb informiert, als anderswo: Zweimal pro Jahr gibt ein Veranstaltung der Schulpflege den Eltern Gelegenheit, sich über aktuelle Geschehnisse in den Schulen zu informieren, und in angenehmer Atmosphäre den Kontakt zu Lehrern und Behörden zu pflegen. Letzten Donnerstag fand sich eine kleine, aber interessierte Schar Eltern in der Turnhalle Gundetswil ein, um zu erfahren, weshalb ihre Kinder nicht mehr so oft Diktate schreiben müssen.

Sprachunterricht im Wandel

Der Referent Heinrich Broxler, Professor am Pädagogischen Seminar der Uni Zürich ist selbst in der Ausbildung von angehenden Primarlehrern tätig. Er verdeutlichte, welche Erkenntnisse über Lernprozesse hinter neuen didaktischen Methoden stehen und dem neueingeführten Sprachbuch «Treffpunkt Sprache» den Stempel aufgedrückt haben: Man wolle die Kinder nicht mehr mit Druck zum Lernen bringen, sondern ihre Freude an der Sprache wecken. «‹Aus Fehlern lernt man›, früher der Leitgedanke des Unterrichts», so Broxler, «aber Fehler bringen auch viele Frustrationen.»

Ausserdem wird die Halbwertszeit des Wissens immer kürzer, insbesondere in naturwissenschaflichen Fächern veraltet das Wissen schnell. In der Schule wird daher das Gewicht vom Fakten-Büffeln auf das Lernen des Lernens verlegt: Wie eignet man sich Wissen an?

Von Seite der Eltern werde oft kritisiert, dass in den Schulen heute zu wenig Hochdeutsch gesprochen werde, meint Broxler. Vergessen werde dabei, dass früher hauptsächlich der Lehrer mehr Hochdeutsch gesprochen habe, heute, wo der Frontalunterricht zugunsten von Gruppenarbeiten in den Hintergrund rückt, komme der einzelne Schüler wohl sogar mehr zum Sprechen – auch in Hochsprache.

Zudem sind gesprochene und geschriebene Sprache zwei verschiedene Paar Stiefel: Das Sprechen der Hochsprache in der Schule habe nicht – wie angestrebt – den schriftlichen Ausdruck verbessert, sondern dem Hochdeutsch den Nachgeschmack von Offizialität, Ernst und Prüfungsatmosphäre verpasst. Ein Wiener Professor, so erzählt Broxler, habe es einmal so ausgedrückt: «Wenn Ihr Schweizer Hochdeutsch redet, dann tönt es alleweil so, als ständet Ihr vor dem Lieben Gott.»

«Stellen Sie sich vor, Sie schreiben einen Brief – und erhalten anstelle einer Antwort ihren Brief zurück – mit roter Markierung der Fehler!» Deshalb hat der Aufsatz in der bekannten Form – gegebenes Thema, vorgeschriebener Aufbau – ausgedient. Dafür stellen die Lehrer den Schülern Schreibzeit zur Verfügung, machen Themenvorschläge und stehen bei Problemen zur Seite. Die Ergebnisse der Bemühungen werden in der Klasse vorgelesen, in einer Wandzeitung ausgestellt oder in einer anderen Form veröffentlicht. «So sind die Schüler nämlich selbst an einem guten, fehlerfreien Text interessiert.»

Speziell neue Erkenntnisse über den Spracherwerb und und das Lernverhalten haben die Sprachforscher dazu gebracht, das Fehler-Machen der Schüler als Teil des Lernprozesses zu sehen. Wenn ein Zweitklässler plötzlich alle Wörter mit grossem Anfangsbuchstaben schreibt, hat er etwas gelernt: nämlich das es Worte gibt, die gross geschrieben werden. Als nächstes wird er die Einschränkung kennenlernen, dass nicht jedes Wort gross anfängt. Fehler sind also typisch für den Stand eines Schülers, und nicht einfach auszumerzende Übel.

Sprache als Ganzes, sinnvoll, das heisst eingebettet in eine Situation, zu gebrauchen und zu erlernen, das ist die Philosophie, welche heute den Sprachunterricht prägt. Sprache nicht als Gegenstand für Sprachübungen, sondern als Gebrauchsmittel. Die Eltern können die Bemühungen ihrer Sprösslinge unterstützen, indem sie vorleben, dass Lesen Spass machen, und Schreiben spannend sein kann – spielerisch. Oder auch mal Ferien im hochdeutschen Sprachraum verbringen.

Quelle: Der Landbote, Samstag, 27. November 1993

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Thema: Neuer Lehrplan: Sprachunterricht
Nr: 49
Ausgabe: 93-276
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