Bauma: Zweiwöchiges Lager im Schindlet für 26 Kinder und Jugendliche aus Ostberlin

Für ein paar Tage Ferien vom Grossstadtleben

Dem Grau der Grossstadt entflohen sind 26 Kinder im Alter von eineinhalb bis 17 Jahren: Oberhalb Bauma, im Ferienhaus Schindlet, wohnen Heimkinder aus Berlin-Ost, die während zwölf Tagen in der Schweiz Ferien verbringen, Ausflüge unternehmen und sich erholen.

(scm) Im ehemaligen Restaurant Schindlet, das heute von der Asylkoordination des Kantons Zürich genutzt wird, «wuseln» munter grosse und kleine «Knöpfe» durcheinander, es herrscht Aufbruchstimmung. Die Kinder und Jugendlichen wollen den Zürcher Zoo besuchen und machen sich für die Abfahrt bereit.

Die Kinder und Jugendlichen stammen alle aus sozial geschädigten, schwierigen Familienverhältnissen, sind vernachlässigt, wurden teilweise sexuell:: missbraucht – wohnen deshalb im Heim. Es sind Kinder von Eltern darunter, die mit all den Veränderungen im Osten Berlins, ausgelöst durch die Wiedervereinigung, nicht zu Rande kamen, dadurch alkoholabhängig wurden. Das Ferienlager in der Schweiz, organisiert von der Kovive, ist für die Kinder die einzige Möglichkeit, einmal Ferien ausserhalb der Grossstadt zu verbringen. Betreut werden die Feriengäste von fünf Leitern aus dem Heim in Ostberlin und drei Schweizern.

Ferien ausserhalb der Grossstadt

Das Programm, so erklärt Lagerleiter Markus Suter, ist deshalb auch so angelegt, dass die Kinder ausgiebig von der frischen Luft und der Natur, den Bewegungsmöglichkeiten profitieren können. So hat die Gruppe bereits eine Wanderung unternommen, die Kinder hatten Gelegenheit zu baden und die Umgebung auf einer Velotour kennenzulernen. Die Kleineren waren zu Besuch auf einem Bauernhof. wo die Stadtkinder einen Ausritt auf dem Esel wagen (und auch einmal runterpurzeln) konnten.

«Schon ganz schon viel erlebt»

Roger, 13jährig, erzählt von Berlin-Ost, wo er lebt: «Bei uns gibt es fast keine Bäume, nur Strassen, Asphalt und viele Menschen.» Das Heim sei ein trister, neuerbauter Betonklotz mit sieben Stöcken. Kein Wunder, dass ihm an der Schweiz besonders gefallt, dass «es hier mächtig viel Grün gibt, dass jeder ’ne Arbeit hat und nicht so doll geklaut wird wie in Berlin». Die siebenjährige Vipke meint, sie hätte eigentlich schon ganz schön viel erlebt in der Schweiz»; aber am meisten schätzt sie, dass rund um das Haus so viel Platz zum Spielen ist. Und Daniela, eine Leiterin aus Ostberlin, freut sich auf den Ausflug nach Luzern, den sie an ihrem freien Tag unternehmen will.

Durchgangszentrum nutzen

Das Ferienlager wurde von der Kovive in Zusammenarbeit mit der Asylkoordination des Kantons Zürich organisiert. Da die Zahl der Asylbewerber rückläufig ist, wurde und wird nach Möglichkeiten gesucht, die Infrastruktur und das Personal anders zu nutzen, so dass Entlassungen vermieden werden können. Als weiteres Projekt möchte der Leiter des Durchgangsheims, Markus Suter, zusammen mit dem Fürsorgeamt der Stadt Zürich im Juli sozial benachteiligten Ausländerfamilien das Angebot machen, im Schindlet zwei Ferienwochen zu verbringen.

Basisnahe Arbeit gegen Armut

Kovive, das «Hilfswerk für sozial Benachteiligte in Europa», wurde 1956 gegründet. In diesem Jahr wurde das erste Ferienlager in der Schweiz für Kinder aus den Slums von Paris organisiert. Seit zwei Jahren ist Kovive neben den traditionellen Betätigungsfeldern Frankreich, Deutschland und Italien auch in Ländern Osteuropas aktiv (so zum Beispiel in einem Projekt zur Arbeitsbeschaffung für Frauen aus Magdeburg).

Das Hilfswerk will heute der Öffentlichkeit bewusst machen, dass Armut in Europa existiert, und beim Abbau der sozialen Not mitwirken, indem es jenen Ferien ermöglicht, «die es am nötigsten haben» (Broschüre), die sich aber Urlaub aus eigenen Mitteln nicht leisten könnten.

Das Ferienangebot stutzt in der Schweiz auf drei Säulen ab:

  • Vermittlung von Ferienplätzen bei Schweizer Gastfamilien – dieses Jahr für etwa 700 Kinder
  • Organisation von Ferienlagern wie dasjenige in Bauma; heuer kommt auch eine Gruppe von Kindern aus Prag in die Schweiz
  • ein Ferienangebot für benachteiligte Schweizer Familien.

Ein weiteres Beispiel für die Aktivitäten der Kovive: Für Erwachsene mit Lese- und Schreibproblemen werden Kurse durchgeführt.

Finanziert wird Kovive zum grössten Teil aus privaten Spenden; das Hilfswerk kann sich bei seiner Tätigkeit auf die Mitarbeit von 1500 Freiwilligen stützen. Das Patronat von Kovive haben unter anderem Bundesrat Flavio Cotti oder der Filmregisseur Fredi M. Murer übernommen.

Quelle: Der Landbote, Mittwoch, 3. Juni 1992

Rubrik und Tags:

Metadaten
Thema: Ostberliner Kinder auf Besuch
Nr: 24
Ausgabe:
Anzahl Subthemen:

Obsolete Datenfelder
Bilder: 1
Textlänge: 280
Ort:
Tabb: FALSCH